Alice at Wonderland
anmachen, er will wirklich nicht mehr als seine Geschich te loswerden. Leider aber auch nicht weniger. Sven besitzt die Fähigkeit, seiner bedauernswerten Lage mehr Nuancen abzugewinnen als ein Kunsthistoriker dem Gesamtwerk Leonardo da Vincis. Im Laufe des Monologs entwickeln meine Augen die Geschicklichkeit eines Chamäleons. Ei nes bleibt bei Sven, und das andere streift über den Raum auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg. Mitten im Gewühl entdecke ich Ellen. Inzwischen zur Psycho therapeutin herangereift, turnt sie hier bestimmt nicht aus neu gewonnener Lebenslust herum, sondern eher aus der tiefen Verzweiflung über das, was sie täglich in ihrer Praxis zu hören kriegt. Doch sie ist meine einzige Chance, Svens Redefluss einzudämmen. Ein lockeres Gespräch von Frau zu Frau. Ich erinnere mich an unsere letzte Begegnung vor sechs Wochen. Wir hatten uns zufällig irgendwo in der Stadt getroffen, Straßenecken-Smalltalk. Sie hat mir einige wenige Fragen gestellt, um auszuloten, ob ich endlich reif für eine Behandlung wäre, und ich habe ihr einige wenige Fragen gestellt, um auszuloten, ob sie noch ganz dicht ist. Grundsätzlich kann man da also schon von einem liebe vollen Verhältnis sprechen.
Trotzdem kann ich nicht einfach zu ihr rüber. Sie ist nicht allein da, und von den beiden Typen, die ihr fast auf den Füßen stehen, kenne ich keinen. Die machen mir auch keinen vertrauenswürdigen Eindruck. Dunkler Rollkra genpullover sowie ein V-Ausschnitt-Sweater über einem karierten Hemd deuten auf schwere Persönlichkeitsmängel hin.
»Oder was meinst du?«, schnappt eines meiner Ohren auf. Ich sehe Sven mit beiden Augen in das fragende Ge sicht. Die letzte Passage ist mir entgangen, also muss ich jetzt irgendwas echt Intelligentes aufs Parkett bringen.
»Kann man so und so sehen«, sage ich fachmännisch.
Diesmal macht er hm-hm, setzt aber seine Geschichte fort. Wer erzählen will, hört selten zu.
Es muss mir irgendwie gelingen, Ellen möglichst unauffällig an meinen Platz zu locken. Ich drehe mich halb ein und fuchtele wild mit meinen Armen herum, um Ellen auf mich aufmerksam zu machen. Meine Signale huschen hinter ihrem Rücken vorbei direkt auf Panther Nummer eins zu. Er sitzt immer noch allein da und wartet darauf, angesprochen zu werden. Und er sieht mich und steht tat sächlich auf. Hervorragend. Jetzt kann ich hier gleich eine Praxis aufmachen. Mir ist schleierhaft, was in diesem Ty pen vorgeht, wenn er auf so ein Signal reagiert. Ich hätte nie gedacht, dass es möglich ist, einen Mann zum Kontakt zu ermuntern, indem man sich benimmt wie eine außer Kontrolle geratene Windmühle.
Aber es funktioniert. Während mir Svens Wortschwall ins Dekollete rieselt, nimmt der Typ seine Jacke, dreht sich zu mir um, geht ein paar Schritte und rempelt dabei aus Versehen Ellen an. Er entschuldigt sich umständlich und Ellen sieht mich. Ich rudere zur Begrüßung noch einmal heftig mit den Armen, als wäre eine lange verschollene Verwandte aus dem Dschungel zurück. Ellen lächelt mich an. Jetzt erkennt auch der Typ, dass Frauen, die sich derart gebärden, nicht notwendigerweise Telefonnummern austauschen wollen. Er verschwindet ge knickt, ohne tschüss zu sagen. Und Ellen lächelt mich weiter an, grüßt kurz und bleibt, wo sie ist. Dann deu tet sie mit einer kleinen, kaum sichtbaren, koketten Ges te auf Sven. Eine Art Glückwunsch, dass es mir gelun gen ist, den hübschen Barmann anzumachen. Wobei sie selbstverständlich nicht stören wird. Sie weiß, was hier abgeht. Sie ist ja schließlich nicht umsonst Psychotherapeutin. Ellen wendet sich wieder dem Rollkragenpullover und dem karierten Hemd zu. Jeder hat die Gesellschaft, die er verdient. Resigniert überlege ich, wie ich Sven aus dem Konzept bringen kann.
»Vielleicht lag's am Sex«, sage ich so provokativ wie möglich.
»Was?«, fragt er stirnrunzelnd, »dass ihre Mutter mich nicht leiden kann?«
Ich hätte darauf achten sollen, was er zuletzt gesagt hat.
»Nein. Ich meine, dass deine Freundin abgehauen ist.«
Er reibt sich nachdenklich das Kinn. Hab ich dich, Bürschchen. Männer bei der Ehre gepackt.
»Meinst du, sieben-, achtmal die Woche ist zu wenig? Nach zwei Jahren?«
Mir fällt der Strohhalm aus dem Gesicht.
»Oder hätten wir es öfter im Bett machen sollen?«,
fragt Sven unsicher. »Und nicht immer in Fahrstühlen und Parks und Autos und so?«
Ich werde weich. Sven verwandelt sich vor meinen Augen vom Melancholiker in ein
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