Alicia II
eigenen Spezialgebiet einiges erreicht. Gute Bücher wurden geschrieben. Frauen wurden in meinen Augen wieder interessant. An echten Whisky konnte man immer leichter kommen, je mehr Korn sich für seine Herstellung erübrigen ließ. Und ich hätte dich auch gern wiedergesehen. Ich hatte einen Haufen blöder Gründe dieser Art.«
»Mir kommen sie wie ganz normale Gründe vor.«
»Ja, dir. Ich weiß, ich bin nicht fair. Was ich zu sagen versuche, ist, daß die normalen Gründe, die regulären alltäglichen Zwänge, die uns in ein neues Leben treiben, nichts weiter sind als eine Beschönigung für müßige Neugier.«
»Ich kann dir nicht folgen, Ben.«
Er nahm einen langen theatralischen Schluck aus seinem Whiskyglas und fuhr fort: »Früher hatten wir nur die eine einzige Lebensspanne, um uns zu beweisen, um zu siegen oder zu versagen. Erleiden wir jetzt einen Mißerfolg oder haben wir uns der falschen Laufbahn gewidmet, sagen wir: Puh, was soll’s, das nächste Mal mache ich es besser. Wir können grausam sein, weil wir die Grausamkeit später, in all der Zeit, die uns zur Verfügung steht, wiedergutmachen können. Beziehungsweise uns vornehmen, sie wiedergutzumachen. Die Zeit hat ihre eigene Methode, uns von der Grausamkeit zu distanzieren und sie letzten Endes als entschuldbar hinzustellen. So machen wir weiter, wir entleeren das Leben seiner Bedeutung, weil wir denken, bei der nächsten Runde könnten wir ihm diese Bedeutung geben.«
»Verdammt, Ben, was erwartest du? Das ist die menschliche Natur, es ist …«
»Ja sicher, das ist die menschliche Natur. Die Entschuldigung, die für alles herhalten muß. Jesus, Voss, es liegt in der menschlichen Natur zu sterben. Wenn wir dies Gesetz brechen, müssen wir wenigstens etwas dafür bekommen, was es der Mühe wert macht. Wie es jetzt aussieht, haben wir jedes Ideal verraten, das einmal mit der Erneuerung verbunden war.«
»Was meinst du denn damit?«
»Jede Entwicklung trägt in sich ein Ideal, ob die Verantwortlichen es sich klarmachen oder nicht. Wissenschaftliche Erfindungen erweitern die Umgebung oder zumindest einen Teil davon. Meistens tragen sie dazu bei, den Menschen frei zu machen, und das ist das Ideal, das sie in sich tragen: dem Menschen eine bessere Existenz zu schaffen und ihm dadurch Freiheit zu geben, seine idealen Bedürfnisse zu befriedigen. In der Vergangenheit hat die Wissenschaft den Menschen kontinuierlich freier gemacht, selbst unter politischer Tyrannei. Aber was war der Erfolg? Der Mensch wußte nicht, was er mit seiner Mußezeit anfangen sollte. Er …«
»Halt, halt! Manche Menschen haben guten Gebrauch von ihrer Freiheit gemacht. Unter diesen gottverdammten politischen Tyranneien, die du erwähntest, hat es Männer gegeben, die technische Erkenntnisse benutzten, um die gottverdammte Tyrannei loszuwerden.«
»Mag sein. Vielleicht war das technische Wissen aber auch nicht nötig. Und selbstverständlich hat es immer Einzelpersonen gegeben, die aus dem Klischee ausbrachen. Aber vergiß jetzt die paar Einzelpersonen, ich spreche über die Masse der Menschen.«
»Die ein verzweifeltes Leben führt …«
»Halt den Mund. Laß uns statt dessen über medizinische Entwicklungen reden. Beinahe alle medizinischen Entwicklungen der Vergangenheit haben zu einer Verlängerung des Lebens geführt. Ein kleiner Eingriff konnte ein Organ retten und dem Patienten wer weiß wie viele zusätzliche Jahre schenken. Das Erneuern ist das non plus ultra des Lebensverlängerungsideals. Alle Zeit, die du brauchst, um die Dinge zu tun, die du tun möchtest. Und was ist mit all diesen medizinischen und wissenschaftlichen Entwicklungen geschehen,
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