Alicia II
nicht viele Missionen. Diese heute kam am nächsten …«
»Vielleicht sollte ich gehen. Wir können morgen darüber reden, wenn du ausgeschlafen hast, wenn …«
»Nein, jetzt! Ich muß es aussprechen, ich muß dich soweit bringen, daß du es verstehst, wenn du es überhaupt verstehen kannst. Hör mir einfach zu. Einverstanden?«
Sie fuhr mit der Hand über das Schienbein, gerade unterhalb des Saums ihrer Robe. Entweder rieb sie eingebildeten Schmutz weg oder rupfte an Haaren, die eine Enthaarungsbehandlung längst beseitigt hatte.
»Willst du zuhören?«
»Natürlich will ich das.«
»Natürlich willst du das – welch ein Edelmut in deiner Stimme! Entschuldige, ich wollte dich nicht – es wird bei mir zur Gewohnheit, auf dich loszuhacken. Also gut. Ich stand auf dieser Straße. Vielmehr in einem Eingang. Man hatte mir ein Bild von Madling gezeigt, mir gesagt – nun, ich habe dir gesagt, was man mir gesagt hatte. Ich sollte ihm folgen oder ihn ablenken. Also gut. Triplett hatte gesagt, es sei jemand bei Madling, es werde ihm helfen, wenn es mir gelänge, diesen Jemand zu entfernen. Weil er sich nämlich als gefährlich erweisen könnte. Triplett hatte richtig prophezeit, wie du so tapfer unter Beweis stelltest. Er ist ein sehr vorsichtiger Mann, dieser Triplett, und der beste aller Attentäter gewesen. Nur ein Beispiel: Er hat seinen Termin im Beinhaus schon um beinahe zehn Jahre überlebt. Soviel wir wissen, ist noch kein anderer Ausgemusterter seinem Schicksal so lange Zeit entgangen, obwohl behauptet wird, manche verschwänden für immer. Jedenfalls muß Triplett gewußt haben, wer du bist und daß ich dich kenne, sonst hätte er mich nie auf eine Mission dieser Art geschickt.«
»Zwei Männer haben mich heute, bevor ich mit Pierre ins L’Etre ging, befragt. Haben sie etwas mit Triplett zu tun?«
»Sieh mal, Voss, mir werden nicht alle Geheimnisse der Organisation anvertraut. Man erzählt mir überhaupt nicht viel. Ich bin nicht ausgemustert, und deshalb bin ich suspekt. Alle Natürlichen oder Erneuerten, die sich dem Untergrund anschließen, sind suspekt. Du mußt schon etwas ganz Großes tun, um ihr Vertrauen zu erwerben. Ich habe noch keine Chance gehabt, obwohl ich heute ein paar Punkte gesammelt haben mag.«
»Punkte? Betreibst du das als Sport? Spielst du Theater, so wie heute, als du über Pierres Tod geweint hast? Ist das …«
»Ich habe geweint, weil – weil, ach, zum Teufel damit. Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Vielleicht später. Laß mich chronologisch vorgehen. Und es ist kein Sport, glaub mir das, kein Sport. Ich weiß, es fällt dir schwer, mich nicht anzuschreien, aber hör mit weiter zu.«
»Chronologisch«, sagte Alicia. »Um chronologisch vorzugehen, hätte ich bei einem früheren Zeitpunkt beginnen sollen. Wie ich angeworben wurde, welche Missionen ich durchführte. Zum Teufel damit. Im Augenblick kann ich an nichts anderes denken als an mein Entsetzen, als ich sah, daß du der Jemand bei Pierre warst. Andauernd sagte ich zu mir selbst, das ist unmöglich, er kann es nicht sein. Ich wollte nicht zulassen, daß du es warst. Ich konnte meinen Teil der Mission nicht erfüllen, wenn du dabei warst. Das war nicht anständig gegen mich gehandelt. Der Bastard Triplett steckte dahinter, ich wollte ihn umbringen. Ich wollte umkehren und den Kontakt nicht herstellen. Ich konnte mich kaum noch bewegen. Mir war, als sei ich von den Seitenwänden des Eingangs eingeklemmt, als müsse ich sie wegschieben, als werde das Gebäude über mir zusammenstürzen, und das wäre mir nur recht gewesen. Aber da warst du, Liebster, und du kamst auf mich zu, und ich wünschte mir so sehr, dich wiederzusehen, mit dir zu sprechen. Es hatte mich unerhörte Willenskraft gekostet, dir so lange fernzubleiben. Ich wollte dich Dutzende von Malen sehen, aber ich hatte so viel Willenskraft, daß ich bei der Stange blieb. Ich war stolz auf so viel Willenskraft. Dann verschworen sich das Schicksal und Triplett und ich weiß nicht, was noch, gegen mich und warfen dich mir buchstäblich in den Weg oder zumindest in den Weg, den ich gehen würde, wenn ich mich entschloß, aus dem Eingang aufzutauchen. Natürlich hat Triplett keine Ahnung, wie tief – nein – wie weit meine Neigung für dich geht. Er dachte, wenn er mich schickte, werde alles ganz natürlich und harmlos wirken – aber so kann es auch nicht gewesen sein, denn dann hätte er mich informiert, daß du da sein würdest. Nein, er muß gewußt
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