Alicia II
sein. Vielleicht ein guter Einwand, wenn auch ein bißchen zu rationalistisch. Denke daran, was du in den letzten Tagen hast durchmachen müssen – welchen psychischen Schock könntest du verkraften?«
»Keinen großen.«
»Richtig. Und dann ist da noch ein weiteres Problem, ein ziemlich blödsinniges. Die für die Kammern verantwortlichen Bürokraten wollen einfach nicht zugeben, daß an Körpern herumgepfuscht wird. Sie bestehen darauf, das Gerede über fehlerhafte Hüllen, wie sie sich ausdrücken, sei übertrieben und da es von offenkundig die eigenen Interessen wahrnehmenden Ärzten stamme, wie sie sich ausdrücken, sei es wahrscheinlich sogar unwahr. Lassen wir ihre Logik beiseite, die Hauptsache ist, daß das Gerücht über fehlerhafte Hüllen ihrem kostbaren Image in der Öffentlichkeit schadet. Außerdem fürchten sie, ihre Kunden könnten mehr von ihnen verlangen, als sie im Augenblick fähig sind zu geben. Ich kann sie beinahe verstehen. Schließlich gibt es bisher nicht viele beweiskräftige Informationen über Sabotageakte. Und ganz gewiß keine soliden Nachforschungen. Zur Zeit fällt es ihnen noch leicht, die Sache mit einem „Puh!“ abzutun. Aber sie werden sich damit beschäftigen müssen …«
»Warum werden denn die Körper überhaupt beschädigt? Wie ist es zu all dem gekommen?«
»Das weiß niemand sicher, aber man kann es leicht erraten. Stell dir vor, was du empfinden würdest, wenn du wüßtest, dein Körper werde einem neuen Besitzer gegeben und dir das Lebenslicht im Alter von sechs- oder siebenundzwanzig für immer ausgeblasen.«
»Natürlich habe ich oft darüber nachgedacht. Das tut jeder. Aber …«
»Aber nichts. Ich will jetzt keine Diskussion über das Für und Wider der Erneuerung anfangen. Das haben wir alle durchgemacht, im College oder sonstwo. Zum Teufel, es hat eine Zeit gegeben, als ich fest davon überzeugt war, die besten Eigenschaften der Menschheit seien es wert, erhalten zu werden, und die Erneuerung sei eine wunderbare Methode, es zu tun. Es war meine ehrliche Meinung, die Erneuerungsgesetze seien logisch und der Trend, eine elitäre Gruppe zu schaffen, in einer überbevölkerten Welt selbstverständlich. So wenige nur brauchten für so viele geopfert zu werden, erinnerst du dich an das hübsche Schlagwort? Ich habe all diesen Unsinn geglaubt. Vermutlich glaube ich ihn in einem egoistischen Eckchen meines Unterbewußtseins immer noch.«
Wir brachten es nicht fertig, uns anzusehen. Das geschah immer, wenn Leute die ideologische Basis der Erneuerung diskutierten. Einmal, als wir im Aufenthaltsraum der Enklave darüber sprachen, brachte Selena uns alle zum Schweigen, indem sie darauf hinwies, solange wir sicher unter der Erde blieben und uns nur selten hinauswagten, seien wir nicht befugt, solche Sachen zu beurteilen. Sie sagte, wir betrachteten uns als die Auserwählten innerhalb der Elite, die für alle anderen Menschen Entscheidungen treffen dürften. Und in Wirklichkeit seien wir Einsiedler, die sich in dunklen Höhlen versteckten und jeden Kontakt mit der realen Welt vermieden, indem wir vorgäben, zu ihrem Fortschritt beizutragen.
»Jedenfalls«, ergriff Ben wieder das Wort, »unterstützte vieles den Gedanken der Erneuerung – der Beginn wichtiger Reformen, wissenschaftliche Entdeckungen und die Lösung von weltweiten Problemen, die seit Jahrzehnten überfällig war. Sogar dieser unterdrückte Glaube an eine Elite schien gerechtfertigt zu sein. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Es gibt Leute, die die Erneuerung abschaffen wollen. Ich bezweifle, daß sie Erfolg haben werden, solange es ein großes Geschäft ist, aber möglich wäre es schon. Also, ob zu recht oder zu unrecht, die Massen revoltieren. Oder doch ein kleiner Prozentsatz der Massen. Es heißt, die ersten Revolutionäre hätten auch die ersten Operationen an sich vornehmen lassen. Was meiner Meinung nach eine Menge über Hingabe und Opferwilligkeit aussagt.«
»Wo finden sie die Ärzte?«
»Das sind Romantiker, nehme ich an.«
»Wie bitte?«
»Ein Arzt hat Augenblicke, in denen er einen altmodischen Operationssaal betreten und sich seinen Kittel von oben bis unten mit Blut bekleckern möchte, nur des nostalgischen Abenteuers wegen. Und die Gefahr, denk an die Gefahr! Wenn man geschnappt wird, erhält man keine Erneuerung mehr! Das ist eine handfeste Gefahr, das mußt du zugeben.«
»Alles ein bißchen zu grausig für Romantik.«
»Ich glaube, du weißt nicht, was Romantik ist.«
Er
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