Alicia II
strich sich mit der Hand über das Hemd, als wolle er Blut abwischen.
»Ist das denn wirklich ein so großes Problem?« fragte ich. »Ich meine, kann man die fehlerhaften Organe nicht einfach ersetzen?«
»Durchaus nicht, mein lieber Voss. Die Organbänke sind heutzutage nur noch Umschlagplätze. Wenn ein Organ oder ein Satz Organe eintrifft, was selten geschieht, liegen schon lange Listen von Anwärtern vor. Das ist ja so paradox am Erneuern: Wir brauchen ganze Körper, und deshalb werden die verfügbaren Teile immer knapper. Und die Teile, die verfügbar sind, werden von den Mechanikern der Erneuerungskammern eifersüchtig gehortet. Körper, bei denen die Erneuerung nicht klappt, werden zerstückelt, um Vorrat für Fälle zu schaffen, in denen ein Ersatz notwendig ist. Dazu kommt, daß die Sabotageakte die Wartelisten verlängern, während sie gleichzeitig bei den Erneuerungsspezialisten Anfälle hervorrufen, weil hauptsächlich die Sabotage den Bedarf an neuen Organen steigert. Man kann nicht einmal mehr mit Organen handeln. Früher war es möglich, eine Niere gegen ein Herz, eine Lunge für eine Leber einzutauschen. Jetzt bringt man sie nicht einmal mehr dazu, einen Arm für einen Fingernagel anzunehmen. Nur wenn Lebensgefahr vorliegt, gibt es eine Chance, daß irgend etwas unternommen wird. Manchmal ergattert man ein künstliches Organ auf dem Schwarzen Markt – die christlichen Lobbyisten tun allerdings ihr Möglichstes, um dem Einhalt zu gebieten –, aber Verlaß ist nicht darauf, und es schafft auch sowieso zu viele Probleme für den Patienten wie für den Arzt wegen der Abstoßungsgefahr und all dem. Ich fürchte, wenn an dem Körper Sabotage verübt worden ist, gibt es kaum etwas, das sich dagegen tun ließe.«
»Um so mehr Grund habe ich, mich heute nicht mehr untersuchen zu lassen. Aber mach dir keine Sorgen, morgen früh bin ich pünktlich um acht Uhr dreißig hier.«
»Gut. Komm, gehen wir zum Abendessen. Und da ich der Gastgeber bin, wollen wir uns echte Lebensmittel leisten.«
»Also, wenn es dich dazu bringt, von deiner Brieftasche das Vorhängeschloß abzunehmen, sollte ich mich öfters erneuern lassen.«
Er lächelte.
»Wenn ich es mir recht überlege, bist du ein gutes Argument gegen das Erneuern. Vielleicht schreibe ich der aufrührerischen Gruppe einen Brief.«
8
Wir aßen in einem nachgemachten Fischrestaurant. Das heißt, das Restaurant war nachgemacht, das Essen war recht gut. Es gab eine köstliche Seezunge mit Mandeln (Sojabohnen anstelle der Mandeln, aber was soll’s), und der Fisch war gerade richtig gekocht, weder so weich wie ein nasser Lappen noch so hart, daß er einem die Kehle zerkratzte. Dazu gab es alle möglichen Beilagen. Zum Beispiel Rüben. Es war Jahre her, daß ich eine saftige rote Rübe probiert hatte, aber hier gab es sie, gezogen auf wieder urbar gemachtem Land und jedem Ersatz, der mir je begegnet war, weit überlegen.
Was das Restaurant grotesk machte, war seine pseudo-nautische Dekoration. Ein Raum schwankte sogar sanft in Imitation eines Schiffs auf hoher See. Dort speisten wir nicht.
Da das Lokal am Ufer lag, gingen die Fenster auf den Erie-See hinaus, aber die Fenster hatten besonders gefärbtes Glas, das seine tote Häßlichkeit in eine scheinbar unvergiftete, reizende Seelandschaft verwandelte. Ebenso gut hätte man eine Mammut-Version von Bens ganz und gar künstlichen Fensterbildern anbringen können, grüne Felder und springende Hirsche. Ich hätte das besser gefunden als diese Verschönerung einer abstoßenden Seelandschaft. Ich beklagte mich bei Ben darüber, doch er zuckte nur die Schultern und sagte: »Das ist Cleveland.«
Ich erzählte ihm von meinen Plänen, wie ich mein Leben in dieser Runde reicher an Abenteuern gestalten wollte.
»Zweite-Lebensspanne-Syndrom«, bemerkte er.
»Was ist das?«
»Am Ende der ersten Lebensspanne ist es nur natürlich, daß der Mensch dazu neigt, Rückschau zu halten. Die meisten Rückschauen sind Kataloge von Verlusten – verpaßte Gelegenheiten, Geschmäcke, die ungeschmeckt, und Freuden, die ungefreut blieben. Was einem entgangen ist, möchte man nach der Erneuerung und Erholung als erstes tun.«
Mir gefiel es nicht, wie Ben in seiner professionellen Art meinen Träumen den Schmelz nahm, deshalb wechselte ich das Thema. Später am Abend kam er darauf zurück.
»Wenn dich der Hafer oder eine andere Getreideart sticht, gehst du am besten hinunter zum Hough-District. Dort ist jetzt alles
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