Alicia II
Männer, denen die fleischlichen Gelüste, von anderen so prahlerisch zur Schau gestellt, abgingen. Deshalb verbrachte ich den Rest meines Lebens damit, zu der Fußnote beizutragen, die ich bei meinem Tod hinterließ. Als es auf das Ende zuging, gelobte ich mir, bei der nächsten Runde wolle ich die verpaßten sexuellen Gelegenheiten nachholen, sobald ich über einen normal funktionierenden Körper und einen neuen Satz von Stimulationen verfügte. Das, was Ben das Zweite-Lebensspanne-Syndrom nannte, hatte ich im Übermaß.
Tatsächlich wünschte ich mir so viele neue Erfahrungen, daß es mich durchaus die gesamte zweite Lebensspanne kosten mochte, sie zu machen.
Und um alles zu verschlimmern, würde der erste Schritt auf meinem neuen Weg offenbar nicht einfach sein.
Wenn ich jedoch diese bereitwillige, freundliche junge Frau ansah …
»Danke«, sagte sie, nahm das Geld und ließ es durch eine Öffnung auf Hüfthöhe, die ich jetzt erst bemerkte, in ihrem engsitzenden Kleid verschwinden.
Ich erkannte, daß ich die Mühe letzten Endes doch nicht scheuen würde.
10
»Zu dem Handel gehört es, Freund, daß du mich zuerst zu ein paar Stimulanzien einlädst.«
Wieder nahm sie meinen Arm. Bei ihrer Berührung wurde mir warm im Nacken. Hoffnungsvoll.
»Nicht, daß ich wirklich Stimulanzien brauche, um auf einen so gut gebauten Mann wie dich zu reagieren.« Mich packte Begeisterung über meinen neuen Körper. Er war ja auch soviel höher und breiter als der natürliche, mit dem ich geboren worden war und in dem ich trotz allem eine volle Lebensspanne verbracht hatte. »Natürlich gehört es zur Routine, daß ich dir schmeichele. Aber du brauchst keine Schmeichelei, weil es die Wahrheit ist. Das weißt du, nicht wahr? Natürlich weißt du es.«
Mir gefiel, was sie sagte, mir gefiel die Art, wie sie mir Selbstvertrauen einzuflößen versuchte. Andererseits argwöhnte ich, daß alles Routine war – die geschickte Behandlung eines Tölpels. Eine Zeitlang gingen wir schweigend weiter, bis mir einfiel, das Unterhalten könne ebenfalls ein Teil der Routine sein. Ich fragte sie nach ihrem Namen.
»Mary. Schlicht und einfach Mary.«
Ihr Griff um meinen Arm wurde fester. Intimer. Sie schmiegte sich enger an mich, und ihre Hüfte streifte beim Gehen meine. Beinahe hing sie an meinem Körper. Jetzt wurde mir überall warm, und ich entspannte mich ein bißchen.
Verlegenheit war ein gutes Zeichen. Hoffnungsvoll.
»Meine Ma hatte den richtigen Instinkt. Sie warf einen kurzen Blick in meine Wiege und entschied, ein einfacher Name wie Mary sei gut genug für ein einfaches Kind. Ma war nicht ausgemustert. Merkwürdig, aber sie erkannte sofort, daß ich keine Chance hatte. Sie zog mich auf, als sei ich das Kind von jemand anders. Als ich das zweite Mal beim Test versagte, stellte sie alle meine Habseligkeiten hinter die Haustür und sagte mir, ich solle ihr Bescheid geben, wenn die Leute von der Spedition da seien.«
Unter dem falschen und unredlichen Licht dieser Rummelplatzstraße, in diesem Kleid, das alle paar Schritte die Farbe wechselte, kam mir Mary wie die wandelnde Kopie eines menschlichen Wesens vor – aber auch wie ein Gemälde, das man nehmen und vor den Gefahren des draußen tobenden Krieges schützen sollte. Oft vergaß ich, daß die Körper, die wir roh Hüllen nannten, von Menschen bewohnt waren, die verzweifelten, weil ihre Mütter sie haßten, von Menschen, die über ihr unausweichliches Schicksal Witze rissen. Du bist sentimental, hörte ich Bens Stimme mich beschuldigen. Dir blutet das Herz. Und natürlich hatte Ben Verständnis dafür, denn er war am sentimentalsten von uns allen, und ihm blutete das Herz am meisten. Wir weinen, dann lachen wir, dann weinen wir, weil wir gelacht haben, dann lachen wir, weil wir geweint haben – und das ist der Grund, warum Ben und ich die Simpel unserer Rasse sind.
»Ablehnung, das ist der Dreck, den sie uns in schmutzigen Silberlöffeln, in Dreifach-Eishörnchen geben.«
Mir entging nicht, daß sie uns sagte. Die Lüge der Kameraderie würde alles leichter für mich machen, dachte ich.
»Aber ich nehme an, du willst darüber nichts mehr hören, wo wir beide doch dem Beinhaus so nahe sind.«
Beinahe hätte ich gefragt, was sie mit Beinhaus meine, aber es war offenbar Slang, und mir war klar, daß ich mich hüten mußte, mich durch Nichtkenntnis von Slangausdrücken als Erneuerter zu verraten. Nach einem Augenblick des Nachdenkens kam ich auf die
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