Alien 1: Vierhundert Milliarden Sterne
Erzählung, aber die
Analyse-Maschinen waren imstande, ihre Bedeutung zu
enträtseln.«
Wie sie da so lag, den Kopf unter der Haube auf eine Hand
gestützt, die kleineren Arme vor der Brust gekreuzt,
ähnelte die Weibliche diesen billigen Darstellungen von Buddha,
die Straßenverkäufer in den meisten Städten auf Erde
verkauften. Süffisant – und selbstgefällig.
»Warum wollten Sie, daß ich hierherkomme?« fragte
Dorthy. »Sie haben mir doch diese Träume geschickt, nicht
wahr? Und dafür gesorgt, daß mich dieser neue
Männliche überwältigte. Sie wollten meinen Tod –
und jetzt wollen Sie, daß ich lebe. Was wollen Sie wirklich von mir? Oder gibt es hier noch andere wie Sie?«
»Jetzt nicht mehr. Ich bin die letzte in einer ganzen Linie
von Wächtern dieser Welt. Bald wird sie keine mehr
brauchen.« Die geteilte, wolkenartige Aura brach wieder auf, und
die Myriaden kreisender Flecken tanzten wie Staubteilchen, die durch
einen Atemzug aufgewirbelt werden.
»Die letzte in einer Linie? Sie hatten eine Familie? Sind die
Hüter Ihre Verwandten?«
Der Übersetzer warf den Kopf hoch und heulte laut auf –
eine grelle Totenklage. Die Weibliche rührte sich nicht, nur
ihre verkümmerten Hände krallten sich fester in ihren Pelz.
Bebend senkte der Übersetzer den Kopf.
»Neue Männliche – das ist wohl der Terminus, den
ihr Menschen für die verwandelten Kinder benutzt, denke ich. Ja,
ich habe das Bewußtsein eines von ihnen manipuliert. Ich
wollte, daß die Kinder euch als das ansehen, was ihr seid: eine
Gefahr, ja, eine Gefahr, die sogar größer ist als jede,
die dieser Welt bisher drohte.«
Dorthys Wärter, der bisher neben ihr gehockt hatte, richtete
sich auf und begann sie sanft, aber bestimmt herumzudrehen,
während der Übersetzer sagte: »Das ist das Wissen, das
übermittelt werden muß. Nehmen Sie es an!«
»Wartet«, rief Dorthy. Der Hüter zog sie weg.
»Sie haben mir noch nicht geantwortet. Was wollen Sie von
mir?«
Aber der Übersetzer senkte den Kopf und sagte nichts mehr.
Dorthy wurde von der Plaza in das Gewirr von Gängen unter dem
Laubdach der Bäume getragen. Sie fragte sich, was die Weibliche
wohl gemeint hatte, als sie die Sonette eine mystische Erzählung
nannte. Denn in Wirklichkeit waren sie nichts weniger als das, waren
in der Tat die am stärksten autobiographisch beeinflußten
Werke Shakespeares, die seine Gefühle gegenüber seinem
Gönner und Freund, dem Earl of Southampton, und der Frau
offenbarten, die er jenen zu heiraten drängte – die
Kurtisane Emilie Lanier, Shakespeares ›Dark Lady‹, seine
eigene dunkelhäutige Geliebte. Dieses Dreiecksverhältnis
mit seinen sich verändernden Konstellationen von Liebe und Macht
und Verantwortung hatte die schönsten Liebesgedichte der
untergegangenen englischen Nation hervorgebracht. Alles hatten sie
überdauert, ihre starken Bilder waren zu ewigen Reflexionen der
Abgründe des menschlichen Wesens geworden.
Aber mystisch…?
Dorthy fiel nichts ein, was man dafür hätte halten
können: Selbst die Meditationen über die Unausweichlichkeit
des Todes und das Ende jeder Liebe wurden an kleinen, menschlichen
Beispielen verdeutlicht…
Dorthys Aufseher drückte ihr den Kopf herunter und schob sie
durch den niedrigen Eingang ihrer Zelle. Er folgte ihr und richtete
sich in der rot erleuchteten Höhlung wieder auf. Er öffnete
eine Hand, und Dorthy bemerkte darin ein kurzes feines Drahtgeflecht.
Mit einer beiläufigen Bewegung streifte der Hüter damit
ihre Wange. Der Draht blieb an der Haut haften, und Dorthy sackte auf
der Stelle zusammen, als seien mit einem Streich sämtliche
Muskelstrange durchtrennt worden. Aus einer Ecke ihrer
unausgerichteten Vision sah sie, wie sich das Drahtgeflecht
entfaltete, fühlte, wie es über ihren Kopf gestreift wurde,
fühlte Myriaden von Nadelstichen auf ihrer Kopfhaut. Und dann
schienen die Hüter und die Zelle in unendliche Ferne zu
rücken.
Diesmal war sie der Mittelpunkt der Vision, und der Stoff, der ihr
Gestalt gab, wirbelte aus irgendwelchen verborgenen Teilen ihres
Verstandes hervor. Wissen, Einsichten und Bilder entwickelten sich
simultan. Zu sehen hieß verstehen, und jedes Objekt hatte
seinen eigenen Text.
Zuerst war da mal eine Sonne.
Sie war ein roter Superriese mit dem dreitausendfachen Durchmesser
eines ordinären Zwergsterns wie Sol, aber so lichtschwach,
daß sie kaum mehr war als ein lokaler Wirbel im
schwerfälligen Kreisel der Staubwolken, die in seiner Strahlung
gerade ein
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