Alien 2: Verborgene Harmonien
Sie arbeitete in
ihrem kleinen Büro an den Mietabrechnungen. Ihr Schreibtisch
stand direkt neben einem kleinen Fenster, durch das sie das
Treppenhaus beobachten konnte. Als der Türöffner summte,
hob sie den Blick und sah, obwohl der Compsim ihre Sicht mit
Zahlenkolonnen überlagerte, wie der Neue eilig auf die Treppe
zuging.
Die Concierge fragte sich, was er den ganzen Nachmittag über
getrieben haben mochte, fragte sich nicht zum erstenmal, ob er nicht
doch ein Spion war. Ich brauche einen Rat, dachte sie, klinkte sich
aus ihren Berechnungen aus und rief ihre verstorbene Mutter an.
Einen Moment lang weißes Licht, helle Geräusche,
während der Compsim die Matrices auf der Suche nach der Subdatei
durchforstete, in der der Aufenthalt ihrer Mutter gespeichert war.
Dann kehrte die Welt zurück, und das körperlose Gesicht der
alten Frau schwebte vor ihr in der Luft. Obwohl ihre verwelkten
Lippen sich nicht bewegten, tanzten Worte wie Funken über einem
erlöschenden Feuer in den Verstand der Concierge.
Meine Tochter, es ist schon so lange her.
»Wirklich, Mutter, erst letzte Woche habe ich mit dir
gesprochen. Ich habe dir erzählt, daß Harry zur Mitarbeit
an der Linie eingezogen worden ist. Weißt du das nicht
mehr?«
Die Zeit vergeht hier so langsam, daß ich die Tage
vergesse. Harry baut einen Wall, sagst du?
»Einen Verteidigungswall für den Krieg.«
Arme Alte, sie wurde langsam dünn. Auch die Toten blieben
nicht ewig erhalten. Die Erinnerungen und Persönlichkeiten
vermischten sich allmählich und verringerten sich zu einer
gemeinsamen formlosen Gestalt. Ihrer Mutter war das von Anfang an
nicht gut bekommen. Trotzdem gab sie immer hörbare
Ratschläge, auch jetzt. Die Concierge holte tief Luft und
erzählte von ihren Bedenken gegenüber dem neuen Mieter,
erzählte, wie fehl am Platz er hier schien. »Vielleicht ist
es dumm von mir, Mutter, aber der Gedanke, er könnte ein Spion
oder sonst was sein, geht mir einfach nicht aus dem Kopf.«
Tochter, es ist wichtig, den Krieg zu gewinnen.
»Also soll ich ihn der Polizei melden?«
Eine kurze Pause folgte. Die Gesichtsmaske ihrer Mutter flackerte,
als ob eine elektronische Brise durch sie hindurchwehte. Als sie
jetzt wieder sprach, war ihre Stimme kräftiger als in all den
Jahren zuvor.
Du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen zu machen, Tochter. Er
hat seinen Platz in der Ordnung der Dinge.
»Ich hoffe, daß du recht hast, Mutter.«
Eine Mutter weiß immer alles am besten, Tochter.
Erzähl mir von der Welt draußen. Es ist so dunkel hier
– nur Stimmen, die einem Gesellschaft leisten.
Also erzählte die Concierge ihr ein paar Minuten lang von
ihren Freundinnen, dem Ehemann und dem Krieg, ehe sie ihre Mutter
abschaltete und sich wieder ihrer Buchführung zuwandte. Sie
wußte, sie hatte ihr zu wenig erzählt. Aber die Toten
waren ja nie zufrieden.
Etwa zehn Minuten später betrat ein großer,
dunkelhäutiger Mann in einem weißen Regenumhang das Haus.
Er beugte sich zu dem kleinen Fenster herunter. »Tut mir leid,
daß ich Sie störe…«
Die Concierge erkannte das Messingabzeichen am Kragen des Capes
und war sofort auf der Hut. »Nein«, rief sie, »doch
nicht mein Mann, oder?«
Der Mann sah sie erst verwundert an, berührte aber dann
lächelnd das Abzeichen. »Ich sollte das wirklich abnehmen,
wenn ich nicht im Dienst bin. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie
erschreckt haben sollte. Man sagte mir, daß ein Mr. Florey hier
wohnt.«
Die Concierge ließ vor Erleichterung ein schrilles Lachen
hören. »Ja, ja, er wohnt seit drei Tagen hier. Er hat doch
keinen Ärger, oder?«
»Ich will ihn nur besuchen, wirklich. Können Sie mir
seine Zimmernummer sagen?«
Sie sagte sie ihm aus dem Gedächtnis, war immer ganz stolz,
daß sie nie die Zimmernummer eines ihrer Mieter suchen
mußte, ganz gleich, wie schnell sie kamen und gingen.
»Vielen Dank. Und entschuldigen Sie nochmals, daß ich
Sie erschreckt habe.«
»Ach, keine Ursache…«
Sie hob kokett die Hand an ihr Haar, und verlegene Röte
schoß ihr ins Gesicht.
Der Mann lächelte ihr zu und ging zur Treppe.
Die Concierge blieb eine Minute lang regungslos sitzen. Nichts
geschah.
Sie streifte das Compsim-Gelenkband ab, schloß das kleine
Fenster und ging durch die Verbindungstür in ihr Apartment. Mutter hat recht, dachte sie. Es hatte nichts mit ihr zu tun,
ging sie also auch nichts an. In diesem Krieg konnte man es sich
nicht leisten, sich um Fremde Sorgen zu machen.
Der unbeleuchtete Flur war
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