Alissa 1 - Die erste Wahrheit
wolle sich in einer albernen Geste weiblichen Heldenmuts aus seinem Fenster stürzen, denn er baute sich vor ihr auf. »Tut mir leid, Mädchen.« Er schüttelte den Kopf und grinste. »So nicht. Ein gemeiner kleiner Bann verhindert so etwas heutzutage.«
Sie würde nicht springen. Ein Meson am Fuß des Turms war genug. Aber irgendetwas musste sie doch tun können. Alissa weigerte sich zu glauben, dass sie keine andere Wahl hatte.
»Ihr lügt«, flüsterte sie, und Bailic warf ihr einen überheblichen Blick zu. »Ich habe noch ein wenig Zeit!«, rief sie gequält.
»Aber natürlich«, säuselte er. »Viel Zeit.«
Kalt vor Panik starrte Alissa an ihm vorbei in Richtung ihrer Heimat im Hügelland. In der Ferne glitzerte Ese’ Nawoer, denn die Dächer und Mauern der Stadt spiegelten das Sonnenlicht. Näher unter ihr erstreckten sich die Wälder – grau, kalt und tot. Noch näher lagen die kahlen Weiden, glatt und unberührt unter der körnigen Schicht alten Schnees. Ihr Blick wurde zum Rand der Felder hingezogen, wo sich, umgeben von Birken und Kiefern, ein vollkommener schwarzer Kreis scharf vom Schnee abhob.
Sie starrte hinunter auf diesen schwarzen Kreis, dessen Umriss ihr irgendwie bekannt vorkam. Sie fragte sich, was das sein mochte und warum es sie überhaupt noch kümmerte. Es lag in einem so ungünstigen Winkel zur Feste, dass man es überhaupt nur von einem der Turmzimmer aus sehen konnte. Asche, dachte sie. Die Antwort war so nahe, sie tanzte knapp außerhalb ihrer Reichweite durch ihren Geist. Beinahe wusste sie es … »Hilf mir, Papa«, flüsterte sie, ohne zu wissen, warum. »Ich rutsche ab.«
Alissa fuhr sich mit der Zunge über die Lippen; ihr Herz hämmerte. Sie schnappte nach Luft, als sie es erkannte. Das war ein Brunnen. Dieser schwarze Kreis unter den Kiefern war ein Brunnenloch! Ihr Blick huschte zu Bailic. Er strahlte die beinahe greifbare Gier danach aus, andere zu beherrschen, und er ergötzte sich daran, dass er ihre Entscheidung vollkommen im Griff hatte. »Strells Knöchel«, stammelte sie. »Ich … wir brauchen mehr Zeit.«
»Ich lasse keine Ausreden gelten«, hauchte er.
Die Wölfe sollten sie jagen! Das Buch steckte in diesem Brunnenschacht. Sie konnte es spüren. Alissa blickte verzweifelt von dem Brunnen zu Bailic. Es war da. Es gehörte ihr! Wie konnte sie es ihm einfach geben? Wenn sie es herausholen könnte, ohne dass er es merkte, aber dann … Alissa brach innerlich zusammen. Ach, was spielte das schon für eine Rolle? Sie konnte es ohnehin nicht mehr benutzen.
»Ich kann es Euch holen«, sagte sie in die Stille hinein und fragte sich, ob Bailic wohl hören konnte, wie ihre Seele raschelnd verdorrte.
»Er hat dir gesagt, wo es ist!«
Mit einem melodischen Klirren fiel sein Becher zu Boden und zersprang. Der andere, noch heil, aber nutzlos ohne sein Gegenstück, stand auf dem Tisch.
»Sag es mir!«, schrie Bailic, packte sie an den Schultern und riss sie herum.
»Nein!«, schrie sie, prallte gegen den Tisch, und der zweite Becher rollte über den Rand. Sie riss sich los, streckte die Hand aus, um ihn aufzufangen, und mit einem leisen Geräusch landete der Becher auf ihrer Handfläche. Dieser, so schwor sie sich, würde nicht zerbrechen.
»Wo ist es!«, kreischte Bailic wie von Sinnen.
Hier, vor diesem Balkon, überkam sie ein eigenartiges Gefühl der Unausweichlichkeit. Ihre Entscheidung war lächerlich einfach. Es war völlig sinnlos, sich damit zu quälen. Die Alternative war ihr Tod. »Dort unten.«
»Im Wald?«, spie er aus, und sein Gesicht wurde scharlachrot.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Es lag die ganze Zeit über direkt vor meiner Nase!«
Sie zuckte erneut mit den Schultern.
»Hinaus«, sagte er und deutete mit zitterndem Zeigefinger auf die Tür.
Alissa ließ wie betäubt den Becher in ihre Tasche gleiten, und sie gingen hinaus. Hintereinander stiegen sie die Treppe hinab. Der vertraute Weg wirkte verändert, als sehe sie ihn zum ersten Mal ganz deutlich. Vielleicht auch zum letzten Mal. An den Türen in der großen Halle blieben sie stehen, und Alissa zog ihren Mantel über. Bis auf Strells Abend im Garten hatte sie ihn seit Wochen nicht mehr getragen, und er war kalt und steif. Die Bänder ihrer Stiefel zeigten erste Anzeichen der Fäulnis, und sie blickte traurig auf diese ungeheure Hässlichkeit hinab. Sie waren so schön gewesen, als sie von zu Hause fortgegangen war. Stöhnend öffnete sich ein schwerer Türflügel unter Bailics energischem
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