Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Druck.
Ein kalter Windhauch traf sie, und Alissa kuschelte sich in ihren Mantel. Sie zog sich den Hut in die Stirn, trat in den Schnee und hörte ihre Schritte darin leise quietschen. Bailic schlang die Arme um sich und kniff in der grell erleuchteten Welt die Augen zusammen. »Zeig es mir«, verlangte er mit verzerrtem Gesicht.
»Hier entlang.«
Mit leisem Flügelrauschen erschien Kralle, so unvermutet wie immer, und ließ sich auf Alissas hastig erhobenem Arm nieder. Der Vogel ruckte wild mit dem Kopf, weil er abwechselnd den Himmel absuchte und Bailic anfunkelte. Dabei keckerte er wie verrückt. »Schon gut«, sagte Alissa. »Was hat dich denn so aufgeregt, und wie kommst du überhaupt nach draußen?« Alissas Fensterläden waren geschlossen. Strell musste den Vogel herausgelassen haben, dachte sie. Das erklärte allerdings nicht Kralles helle Aufregung. Vielleicht hatte sie einen großen Bussard oder etwas Ähnliches gesehen. Schließlich erlaubte der Vogel Alissa, ihn auf ihre Schulter zu setzen, und mit einem letzten finsteren Blick auf Bailic machten sie sich auf den Weg. Er war die ganze Zeit über brummelnd auf und ab gegangen. Das hatte keineswegs dabei geholfen, Kralle zu beruhigen.
Es war ein herrlich sonniger Nachmittag, und nach dem ersten Kälteschock war es auch warm genug. Nun, dachte Alissa, ihr zumindest war warm. Bailic war von den Knien abwärts klatschnass, da er keine Stiefel trug. Doch sie musste ihm zugestehen, dass er tapfer mithielt und hinter ihr dreinstapfte, ohne ein Wort zu verlieren, den dünnen Hausmantel fest um sich gewickelt. Langsam bahnte sich Alissa einen Weg durch den beinahe hüfthohen Schnee und hielt auf die Kiefern zu, wo der Schnee nur etwa knietief lag. Sie kamen schneller voran, sobald sie den kühlen Schatten der Bäume erreicht hatten, und bald traten sie auf die winzige Lichtung.
Alissa konnte sich ein schwaches Lächeln nicht verkneifen, als sie sich dem Brunnen näherte. Hier sah es genauso aus wie im hinteren Garten zu Hause. Die immergrünen Bäume standen gebeugt unter ihrer Last aus Schnee. Weiße Birken ragten zwischen ihnen auf und bildeten einen hübschen Kontrast zum schwärzlichen Dunkelgrün der Kiefern. Der schwarze Kreis markierte den Brunnen, und sie blieb davor stehen. Tief atmete sie ein und genoss die Stille und den würzigen Duft nach Kiefernharz und Rinde.
»Hier?« Bailics Ruf zerriss die Stille. »Genau unter meinem Fenster?«
Alissa fuhr erschrocken zusammen. »Genau unter Eurem Fenster«, spottete sie, denn es war ihr gleich, was nun mit ihr geschah.
Bailic erstarrte. Er holte aus, um sie zu schlagen. Alissa reckte das Kinn, kniff die Augen zusammen und forderte ihn heraus, es zu versuchen. Es würde ihm nicht gelingen. Sie war zu schnell für ihn, wenn sie vorgewarnt war.
»Nein«, flüsterte er und hielt sich zurück. »Ich habe eine bessere Idee. Vielleicht ist es an der Zeit für eine kleine … Demonstration.«
Er ließ sie an dem Brunnen stehen, trat unter die Birken und spähte in die Zweige hinauf. »Wie ich bereits festgestellt habe«, murmelte er, »hast du deine gesunde Angst vor mir verloren. Menschen, die den Tod betrogen haben, verändern sich meist in eine von zwei Richtungen. Du fürchtest ihn offensichtlich nicht mehr. Ein Jammer, sonst wäre alles so viel einfacher. Ich kann nicht behaupten, dass es mir sonderlich viel ausmachen würde, doch dieses unverschämte Benehmen muss aufhören … Ah«, seufzte er dann. »Da haben wir einen.« Zu Alissas Erstaunen stieß Bailic einen leisen, lockenden Pfiff aus. Hoch oben in den Zweigen erklang die gezwitscherte Antwort. Verblüfft sah sie zu, wie Bailic einen kleinen schwarz-weißen Vogel herablockte, doch die fröhlichen Spaße des kleinen Körnerfressers, die sie sonst so erfreuten, erfüllten sie nun mit Grauen.
»Du«, sagte er zu Alissa, sah aber dabei den Vogel an, »fürchtest vielleicht nichts, was man dir antun könnte, aber wie ist es bei anderen?« Er wandte sich um, und der kleine Vogel saß frech auf seiner milchweißen Hand. Sie hörte die Warnung in seiner Stimme, und eisige Angst durchführ sie.
»Ein vertrauensseliges kleines Ding, nicht wahr?«, bemerkte er leise. »Es fürchtet sich nicht einmal vor dem natürlichen Feind auf deiner Schulter.«
»Tut das nicht, Bailic«, sagte Alissa gepresst. »Ich habe verstanden.«
»Ach ja?«, erwiderte er und zog spöttisch die Augenbrauen in die Höhe.
»Lasst ihn in Ruhe. Er hat nichts getan.«
»Doch, das
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