Alissa 1 - Die erste Wahrheit
viermal um den Kopf wand und es so fest verknotete, wie Alissa es noch nie gesehen hatte. »Ich hätte ihre Tür abschließen sollen«, murmelte ihre Mutter vor sich hin, während ihre Finger das Band verknoteten. »Ich hätte ihre Fensterläden schließen müssen.« Ohne ein weiteres Wort wandte ihre Mutter sich ab, ging in Alissas Zimmer und schloss die Tür.
»Ich bin Schweinefutter«, flüsterte Alissa. »Das war’s. Sie wird mich den Schweinen zum Fraß vorwerfen.« Das Frühstück war vergessen. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und drückte ein Ohr daran. Sie hörte, wie drinnen Schranktüren heftig geöffnet und geschlossen wurden. Ein empörtes Kreischen erklang, gefolgt von einem gedämpften: »Dann geh mir aus dem Weg!«. Gleich darauf war Kralle bei ihr, die aus dem Schlafzimmerfenster hinaus- und zum Küchenfenster wieder hereingeflogen war.
Unter wildem Geschimpfe landete der kleine Vogel auf Alissas Schulter. »Ich weiß es auch nicht«, sagte Alissa. Kralle betrachtete mit schief gelegtem Kopf die geschlossene Tür. Alissa schnappte nach Luft, stürzte zurück zum Tisch und bemühte sich, ganz unbeeindruckt zu erscheinen. Ihre Mutter rauschte mit entschlossener Miene aus Alissas Zimmer hinüber in ihr eigenes, ein Bündel Kleider auf dem Arm, und schien Alissas übertriebenes Desinteresse gar nicht zu bemerken. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Im nächsten Augenblick lag Alissas Ohr bereits am Holz.
»Nein«, hörte sie ihre Mutter vor sich hin murmeln. »Das wird sie nicht brauchen. Ja. Ja, auf jeden Fall. Das wäre schön, aber es würde wohl keine Woche überdauern.«
»Oh, Asche«, flüsterte Alissa. Sie fühlte sich jetzt wirklich elend und ließ sich auf ihren Hocker am Küchentisch sinken. Das war ihr Platz gewesen, seit sie sich auf einen Stuhl hatte hochziehen können. Sie hatte das scheußliche Gefühl, dass dies nicht mehr lange ihr Platz sein würde.
Mit leisen, hastigen Schritten kam ihre Mutter aus ihrem Zimmer gefegt. Kralle gab ein erschrockenes Piepsen von sich und flog aus dem Fenster, um sich im bitteren Geruch der vom Frost verdorrten Kürbisbeete zu verlieren. In einer Hand trug sie Alissas Tasche, die sie sonst nur brauchte, wenn sie mit ihrer Mutter zum Markt ging und dort übernachtete. »Die ist nicht groß genug«, sagte ihre Mutter und wandte sich dann Alissa zu. Ihre Mutter lächelte angespannt und sah gequält und ein wenig verzweifelt aus. »Gut. Zumindest bist du passend angezogen.«
Alissas Blick glitt an der fleckigen Arbeitshose hinab, die in ihren Stiefeln steckte. Normalerweise trug sie einen langen Rock, doch die Arbeit in den Beeten erforderte etwas Robusteres.
Alissa wollte lieber nicht zur Kenntnis nehmen, was das Erscheinen ihres Bündels bedeutete, und rückte nur hastig ihren Teller beiseite, als ihre Mutter es auf den Tisch fallen ließ. Forsch ging sie zur großen Truhe und holte eine größere Tasche heraus, außerdem Alissas Wintermantel und eine zweite Garnitur Arbeitskleidung. Darunter lagen die wohlgehüteten cremefarbenen Lederstiefel ihrer Mutter. Alles landete auf dem Tisch.
»Gehen wir irgendwohin?«, fragte Alissa mit schwacher Stimme, wobei ihr auffiel, dass fast alles auf diesem Tisch ihr gehörte.
»Halb erraten, Liebes. Nur halb erraten.« Das geölte Segeltuch, das hinter der Tür hing, gesellte sich zu dem Haufen.
Alissa drehte es den Magen um. Es war schlimmer, als sie gedacht hatte. »Mutter«, protestierte sie. »Ich weiß, wir haben schon darüber gesprochen, aber du kannst mich nicht zur Feste schicken. Das ist doch nur eine von Papas Geschichten. Diese Burg gibt es gar nicht!«
»Doch, es gibt sie.«
Alissa runzelte die Brauen. »Hast du sie denn gesehen?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Wie erwartet senkte ihre Mutter den Blick. »Nein. Er hat gesagt – er hat gesagt, das wäre zu gefährlich.« Etwas, das Alissa für Angst hielt, kroch in den Blick ihrer Mutter und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Ich dürfte eigentlich gar nicht wissen, dass es sie gibt«, sagte ihre Mutter leise.
Alissa holte tief Luft, rang ihre Angst nieder und verwandelte sie in ein viel vertrauteres Gefühl. »Aber mich willst du dorthin schicken«, erwiderte sie scharf.
Zu ihrer großen Überraschung wurde sie von ihrer Mutter nicht ermahnt, still zu sein oder nicht so mit ihr zu sprechen – Alissa fing sich nicht einmal einen dieser bestimmten Blicke ein. Stattdessen streckte ihre Mutter die Hand aus und strich Alissa übers
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