Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Bailics Trance errettet hatte. Nutzlos’ Bann hatte sie verbrannt und beinahe zerstört, doch sie war gewarnt worden. Für ihre Dummheit konnte niemand Nutzlos die Schuld geben. Dann fielen Alissa die finsteren Drohungen wieder ein, die an jenem Abend, als Nutzlos für sie geantwortet hatte, so leicht über ihre Lippen gekommen waren. Das waren keine leeren Worte gewesen. Nutzlos war bereit zu töten, doch nicht ohne Grund, und einen Grund hatte er wahrhaftig. Der Tod sämtlicher Bewahrer und Meister war noch nicht gesühnt.
»Bailic«, seufzte Nutzlos müde, und sein seltsamer Akzent klang vertraut und beruhigend. »Offenbar müssen wir uns dringend unterhalten.«
»Ich kann Euch von hier aus sehr gut hören«, schrie Bailic, »doch Ihr habt mir nicht eben viel anzubieten. Geht fort. Lasst mich in Ruhe.«
Nutzlos schnitt eine Grimasse und half Strell auf die Füße. »Kannst du schon gehen?«, hörte Alissa ihn fragen.
Strell schüttelte den Kopf. Sein Blick begegnete Alissas. Die Leere in seinen Augen machte ihr Angst.
»Ich kann nicht fortgehen«, sagte Nutzlos, dessen leise Stimme sehr weit trug. »Ich habe geschworen, dein Ende mit anzusehen. Es würde mir schwerfallen, ein solches Versprechen zu brechen, selbst wenn ich es nur mir selbst gegeben habe. Dein Tod ist bereits sicher, Bailic. Ich kann ihn höchstens – aufschieben. Außerdem«, sagte er stirnrunzelnd, »wüsste ich nicht, was du mir anbieten könntest im Tausch gegen dein wertloses, jämmerliches, erbärmliches, selbstsüchtiges Leben.«
Bailics Griff um ihren Arm verstärkte sich, und sie spürte, wie er erschauerte. »Ich kann das Buch unversehrt lassen«, rief er heiser.
»Allerdings.« Nutzlos hielt Strell mit einer Hand aufrecht und trat gelassen einen Schritt vor. »Ich könnte es nicht neu schreiben. Vielleicht wäre es das wert, meinen Schwur zu brechen. Vielleicht auch nicht. Wir werden ja sehen, worauf wir uns einigen können.«
»Ich will mein Leben und keine weiteren Einmischungen. Und kommt ja nicht näher.«
»Ihr wollt nicht das Buch?«, grollte Nutzlos. »Wie ich sehe, befindet es sich im Besitz des Mädchens. Wäre es möglich, dass das Buch gar nicht mehr zur Verhandlung steht?«
»Das Buch gehört mir bereits«, erwiderte Bailic selbstgefallig –
Nutzlos’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wie kommst du zu diesem Schluss?«
»Fragt doch Euren Schüler«, höhnte Bailic und verdrehte Alissa wieder den Arm, so dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht aufzuschreien. Geschickt verwandelte sie ihre Angst in Wut, um nicht die Fassung zu verlieren.
Nutzlos richtete seinen ruhigen Blick auf Strell.
»Er hat recht.« Strell warf Alissa einen flüchtigen, entsetzlich schuldbewussten Blick zu. »Das Buch gehört bis zur Sonnenwende ihm, oder Alissa stirbt.«
»Wie ist das möglich?«, fragte die elegante Gestalt und hob bestürzt die Hände.
»Ich habe Euch doch gesagt, dass es mich teuer zu stehen gekommen ist.«
»Teuer, allerdings. Also ist Bailics Leben alles, womit ich feilschen kann.« Nutzlos verstummte. Seine Finger trommelten gegeneinander, und Alissa starrte sie an. Sie konnte von hier aus nicht ganz sicher sein, aber sie schienen vier Fingerglieder zu haben statt der üblichen drei.
»Also schön«, gestand Nutzlos säuerlich ein. »Strell hat keinen Anspruch mehr auf das Buch. Das akzeptiere ich.« Zum ersten Mal sah er Alissa an, und seine blassen Augenbrauen wölbten sich belustigt. »Das spielt allerdings keine Rolle, Bailic«, fuhr er ruhig fort. » Du kannst es nicht öffnen.«
»Was soll das heißen?«, brüllte Bailic ihr ins Ohr, und Alissa verzog das Gesicht.
»Versuch es nur«, höhnte der Mann. Er und Strell traten einen Schritt näher. »Ich wünsche es mir sogar. Nur ein Meister oder jemand, auf den das Buch selbst Anspruch erhebt, kann es öffnen, vorausgesetzt, derjenige besitzt genug Weisheit, um die enthaltenen Lehren nutzen zu können. Das ist seit, ach, über einer Generation nicht mehr vorgekommen.«
»Nein«, keuchte Bailic so leise, dass das Wort eigentlich nur an Alissas Ohr dringen konnte, eine Haaresbreite von seinen Lippen entfernt.
»Doch, Bailic, und du wurdest als ungeeignet eingestuft.«
Hinter Alissa zappelte Bailic unruhig hin und her. »Wo stehen wir also?«, fragte er mit gebrochener Stimme.
»Unterhalten wir uns in Ruhe darüber. Ich versichere dir, dass ich dich weder töten noch verstümmeln werde – solange wir verhandeln.« Nutzlos entfernte
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