Alissa 1 - Die erste Wahrheit
schlafe, um sich dann hinaus in den Garten zu schleichen. Er hat nie gemerkt, dass ich ihn beobachtet habe, wie er da auf demselben Felsen saß … Ach, Asche!« Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte sich ab.
»Ich kann nicht mehr so tun, als wäre nichts«, erklärte ihre Mutter dem Fußboden. »Verflucht seist du, Meson. Du hast mich gewarnt, dass das geschehen könnte, wenn wir ein Kind bekommen, aber ich wollte dir nicht glauben. Du hast mir versprochen, dass ich nicht allein zurückbleiben würde, doch jetzt werde ich sie verlieren, genau wie ich dich verloren habe … Und das alles ist nicht meine Schuld!«
»Mutter?« Alissa streckte die Hand aus. So hatte sie ihre Mutter noch nie gesehen. Es machte ihr Angst.
Ihre Mutter holte zittrig Atem und schien die Fassung wiederzugewinnen. »Deine Schuld ist es auch nicht. Also komm.« Sie lächelte, doch Tränen schimmerten in ihren Augen. »Wir plündern die Küche. Du brauchst mehr Kochzeug als sonst. Der Mörser, den du letztes Jahr gemeißelt hast, ist groß genug, um als Kochtopf herzuhalten. Fangen wir erst einmal damit an.«
Alissas Verstand war erschreckend leer, als ihre Mutter sie am Ellbogen nahm und ohne weiteren Widerstand zum Küchenschrank führte. Sie wurde aus dem Haus geworfen, von zu Hause fortgeschickt, und nur wegen Papas Geschichten? Hatte ihre Mutter den Verstand verloren? Es war schon fast Winter. Die Bergpässe würden binnen eines Monats nicht mehr passierbar sein. Sie musste etwas tun! Doch kein Gedanke tauchte auf und störte die wundersame Leere in Alissas Verstand.
Sie saß wie betäubt auf dem Boden in einem Flecken Sonnenlicht und sah zu, wie ein Gegenstand nach dem anderen in dem viel größeren Reisebündel ihrer Mutter verschwand. Sie hörte kaum auf die plätschernde Stimme ihrer Mutter, die darüber plapperte, warum dieses oder jenes unbedingt hier- und dorthin gepackt werden musste – und Alissa ermahnte, besser aufzupassen, weil sie sich sonst in ihrem Gepäck nicht zurechtfinden würde. Die Stimme ihrer Mutter klang zu fröhlich, konnte ihre wachsende Traurigkeit aber nicht verbergen. Nur allzu bald war der große Beutel voll. Die Wandborde wirkten kahl, obwohl ihre Mutter nicht viel heruntergenommen hatte.
»So«, sagte ihre Mutter in aufgesetzt forschem Tonfall, richtete sich auf und klopfte sich die Hände ab. »Warme Kleidung … Kochgeschirr. Segeltuchplane, Schlafmatte, Wasserschlauch, Vorräte … Oh! Ich habe noch etwas für dich.« Alissa stand auf, als ihre Mutter Papas Zündzeug vom Kaminsims holte. »Das wirst du eine Weile brauchen«, sagte ihre Mutter und blies den Staub weg, ehe sie es Alissa reichte.
Als Kind hatte sie Papas Zündzeug nie anfassen dürfen. Jetzt gehörte es ihr. »Es sieht aus, als wäre es nie benutzt worden«, sagte sie. Der Feuerstein wies nicht einmal einen Kratzer auf.
»So ist es.«
Alissa wurde eiskalt, als das Zündzeug schwer in ihre Hosentasche plumpste. Ihre Mutter meinte es ernst. Ob es diese Feste nun gab oder nicht, sie musste gehen. Heute. Jetzt. Alissas Augen weiteten sich. »Mutter. Das kannst du nicht tun. Was, wenn der Schnee kommt?«
»Dir bleibt gerade noch genug Zeit. Hier. Zieh die an.« Sie hielt Alissa ihre cremefarbenen Stiefel hin. »Dein Papa hat sie mir geschenkt, als wir auf Reisen waren.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Läufst du sie für mich durch?«
»Aber was, wenn ich krank werde!«
»Wann warst du denn jemals krank? Zieh sie an. Sie müssten dir jetzt passen.«
Alissa tat wie geheißen, zu durcheinander, um das glatte, weiche Leder richtig zu würdigen. Ihre alten Stiefel standen einsam und verlassen in dem Fleckchen Sonnenschein und sahen aus, als gehörten sie jemand anderem.
»Was – was, wenn ich mich unterwegs verletze!«, versuchte Alissa es noch einmal verzweifelt.
Das schien ihre Mutter zu treffen, doch sie schüttelte sich leicht und straffte die Schultern. »Ich weiß, er ist zu warm, aber du musst den Mantel anziehen. In deinem Bündel ist kein Platz mehr dafür.« Sie hielt ihn hoch, bis Alissa gehorsam die bleischweren Arme in die Ärmel schob. Das Anziehen war ein wenig mühsam; ihre Mutter hatte ihr nicht mehr dabei geholfen, seit Alissa fünf Jahre alt gewesen war. Sie waren aus der Übung. »Hier ist dein Bündel«, sagte ihre Mutter. »Und dein Hut.«
»Mutter«, sagte Alissa bestimmt, da sie merkte, dass ihre Ausflüchte nichts nützten. »Ich will nicht gehen.«
»Doch, das willst du.« Das Bündel wurde über
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