Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Schürzenzipfel gehört hätte.
Breve lachte, und seine melodische Stimme vertrieb den letzten Nachhall von Earans hässlicher Szene. Die beiden verabschiedeten sich und gingen, wobei der Ältere den Jüngeren ein wenig stützte.
Nisi sah ihnen nach. In ihren Augen blitzte noch ein Lächeln, als sie sich Alissa wieder zuwandte, doch sie weiteten sich, als sie Alissas Grauen bemerkte. »Ach, Alissa«, sagte sie. »Redal-Stan ist nicht so schlimm, wie sie ihn hinstellen. Von allen Meistern ist er der umgänglichste. Und bis er hier unten ankommt, wird er ganz aufgewacht sein. Dann ist er eigentlich recht nett.« Mit gerunzelter Stirn biss sie sich auf die Unterlippe.
Lodesh ergriff Alissas Hände. »Sie hat recht«, sagte er. »Redal-Stan ist mein Lehrmeister, und ich habe festgestellt, dass er eine Schwäche für Frauen hat, die so hübsch anzusehen sind wie Ihr.«
»Danke, Lodesh.« Alissa nahm sein Kompliment mit abwesendem Lächeln entgegen. Er zögerte; offensichtlich war er eine so selbstverständliche Akzeptanz bei jemandem, den er eben erst kennen gelernt hatte, nicht gewohnt.
»Warum setzen wir uns nicht?«, warf Nisi ein. »Redal-Stan schätzt seinen Tee. Lodesh?« Sie schnitt eine Grimasse, als er den Blick nicht von Alissa losreißen konnte. »Würdest du mir bitte in der Küche helfen?«
»Du weißt, wie man Tee kocht, Nisi«, sagte er, ohne Alissa aus den Augen zu lassen.
»Ich will die hübsche Teekanne. Die, die Keribdis gemacht hat.« Nisi stemmte die Hände in die Hüften und schürzte die Lippen. »Sie steht so hoch, dass ich sie nicht erreichen kann«, fügte sie spitz hinzu.
Lodesh seufzte und vollführte dann eine dramatische, höchst elegante Verbeugung. »Ich kehre gleich zu Euch zurück«, sagte er, wirbelte auf dem Absatz herum und hielt mit theatralischem Schritt und hoch erhobenem Kopf auf die Küche zu.
Nisi und Alissa wechselten einen wissenden Blick. »Macht Euch nichts aus Lodesh«, flüsterte Nisi, als er im Durchgang verschwand. »Er ist ein eingefleischter Junggeselle. All seine hübschen Worte bedeuten gar nichts.«
»Ja. Ich weiß.«
»Nun, Ihr wärt die Erste, die das so schnell erkennt«, entgegnete Nisi und wandte sich um, als Lodeshs Stimme zu ihnen drang.
» Welche Kanne ist das, Nisi?«
– 5 –
E ndlich allein, musterte Alissa den Speisesaal eingehender. Er war so wenig verändert, dass es ihr beinahe unheimlich erschien. Die Vorhänge hatten die falsche Farbe, aber sie blähten sich genauso in der nächtlichen Brise und ließen den Duft von Schnittlauch und Salbei aus dem Garten hereinwehen. Die langen schwarzen Tische waren dieselben, ebenso die Stühle mit den hohen Lehnen. Über dem Kamin hing kein Bild, und die Wand sah kahl aus ohne die große Leinwand mit den wirbelnden Blautönen, die sie vergangenen Winter im Lagerraum gefunden hatte. Eine gewebte Schilfmatte hatte den Teppich ersetzt, den sie und Strell aus den Lagerräumen im Keller herbeigeschleppt hatten.
Strell, dachte sie kläglich. Was hatte sie getan? Sie fühlte sich wie von sich selbst abgeschnitten und ließ sich in ihren Sessel sinken, das einzig bequeme Sitzmöbel im ganzen Saal. Und das war tatsächlich ihr Sessel. Die Farben waren leuchtender und die Füllung der Polster gleichmäßiger verteilt, aber er roch genau richtig: nach Klee und Bücherleim.
Sie rollte sich darin zusammen und wartete auf die Furcht erregende Begegnung mit Redal-Stan. Das Feuer war warm und beruhigend, und das leise Hin und Her der murmelnden Stimmen von Nisi und Lodesh aus der Küche weckte Erinnerungen an die Zeit, bevor ihr Papa von zu Hause fortgegangen war; früher hatten er und ihre Mutter sich immer bis spät in die Nacht unterhalten. Alissa fielen die Augen zu, und sie musste eingenickt sein, denn plötzlich drang ihr der bittere Geruch von starkem Tee in die Nase, und eine neue, männliche Stimme sagte: »Sie hat Euch wie bezeichnet?«
»Als den letzten Stadtvogt von Ese’ Nawoer«, antwortete Lodesh mit gedämpfter Stimme, um sie nicht zu wecken. Alissa tat ihm den Gefallen und hielt die Augen geschlossen, die Ohren jedoch weit offen, und fragte sich, ob der andere Redal-Stan war.
»Aber du bist nicht einmal Anwärter auf diesen Titel«, sagte die Stimme. Sein Akzent klang ein wenig nach Tiefland, und Alissas Interesse wuchs. »Er ginge erst an die Kinder deines Onkels, dann an deinen Vater, an deine Brüder oder an deine Schwester, falls es überhaupt so weit käme. Bitte, nimm es mir
Weitere Kostenlose Bücher