Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
meiner Ersten Wahrheit erzählt! Woher sonst könntest du wissen, dass es einem Menschen möglich ist, zum Meister zu werden?«
»Es ist mein Buch«, murmelte Alissa besitzergreifend, doch er hörte ihr gar nicht zu, sondern erhob sich vom Boden zu seiner vollen, wenn auch schmalen Größe.
»Talo-Toecan«, flüsterte er mit entrücktem Blick. »Deine rebellischen Neigungen haben dich diesmal alle Grenzen weit überschreiten lassen.«
Nutzlos ein Rebell?, dachte Alissa. Ach ja? Sie erstarrte, als ihr Blick auf Redal-Stan fiel, eine Hand auf dem Kaminsims, die andere auf dem Kopf.
»Ich muss ihn zurückrufen«, brummte er. Ein dünner Arm wurde dramatisch in die Luft geworfen. »Ich muss sie alle zurückrufen! Zu Asche soll er verbrannt sein, es wird ein Gericht geben müssen. Ein Bein-und-Asche-spuck-in-den-Wind-Quorum … Was bei den Wölfen hat er sich nur dabei gedacht!«, rief er aus.
Gericht!, dachte sie, und Angst durchfuhr sie wie eine Klinge. Sie hatte einen Fehler begangen. Sie hätte den Mund halten sollen! »Wartet!«, rief sie. »Es war nicht seine Schuld! Lasst mich die Sache erklären.«
Alissa beugte sich vor und fasste ihn am Ärmel. Er riss sich los und starrte auf sie hinab, als hätte sie die Pest.
Dies war der schwierige Teil. Der Wahrheitsbann war nicht zuverlässig, wenn Wahnsinn im Spiel war. Alissa stellte ihren Becher auf einen Fußschemel und faltete die Hände. »Ich … äh … Er … Talo-Toecan kennt mich noch nicht?«, sagte sie und kam sich dumm vor.
Das Schweigen dauerte ziemlich lange, doch wie es sich für einen Meister gehörte, verpuffte Redal-Stans Zorn im Angesicht eines spannenden Rätsels. Er zog den Stuhl, auf dem Lodesh gesessen hatte, näher heran. Er setzte sich und beugte sich vor, so dass er ihr auf Augenhöhe ins Gesicht sehen konnte. »Noch nicht? Ich dachte, er hätte dich unterrichtet.«
Alissa wand sich und entschied, dass sie ihn, falls es zum Schlimmsten kommen sollte, hinaus in die große Halle schleifen würde, um ihren Meister-Status mit einer Gestaltwandlung zu beweisen. Mit einem hohen Saal voll scharfer Zähne und Schwingen ließ sich schwerlich streiten. Sie atmete tief durch. »Ich wohne seit fast einem Jahr auf der Feste. Davor habe ich im Hochland gelebt.« Seine Stirn legte sich in ungläubige Falten, und sie bemerkte, dass ihm sogar die Augenbrauen ausgefallen waren. »Auf der Feste«, bekräftigte sie, und auf sein verächtliches Schnauben hin fügte sie hinzu: »Meine Feste, nicht Eure.«
Redal-Stan schürzte die Lippen. »Das wirst du näher erklären müssen.«
»Also«, sagte sie, versteckte sich hinter ihrem Becher und warf ihm verstohlene Blicke zu, »wir waren im Garten, Talo-Toecan und ich …«
»Eben hast du behauptet, dass er dich nicht kennt.«
»Er kennt mich auch nicht – noch nicht«, sagte sie und verzog das Gesicht, als Redal-Stan die Stirn runzelte. »Jedenfalls habe ich geübt, wie man das Muster für einen Liniensprung mit Hilfe eines Septhama-Punktes aufbaut. Strell kam dazu, also habe ich mich von meiner … meiner Raku-Gestalt zurückverwandelt. Ich wollte meine Kleider nicht vergessen, deshalb hat es länger gedauert.« Ihr Blick huschte zu seinem Gesicht, doch sie sah dort Interesse, keine Belustigung. »Ich … ich bin noch nicht so geübt darin. Die Linien für einen bestimmten Septhama-Punkt waren aufgebaut. Ich wollte ihn ja gar nicht benutzen«, fuhr sie fort, denn sie wünschte sich nichts mehr, als selbst eine Antwort zu finden. »Ich wollte das Muster nur mit dem vergleichen, das ich schon gesehen hatte. Ich glaube, es war ein Unfall!«
»Ich verstehe«, hauchte Redal-Stan, den Blick in die Ferne gerichtet. »Du warst im Übergang und bist in die Linien gezogen worden.« Sein Blick wurde scharf, und er blinzelte. »Bei den Wölfen. Weißt du, was du da getan hast?«
»Ich wollte doch nicht …«
»Dein gesamtes Wesen war nur ein Gedanke, also hast du dich selbst dorthin gesandt, wo nur Gedanken hinreisen können! Wie?«, bellte er mit erstauntem Blick. »Die Muster überschneiden sich nicht. Man kann sie nicht zusammen benutzen!« Das war beinahe ein Vorwurf, und sie starrte ihn hilflos an. Dann erschlaffte sein Gesicht. »Du bist ein Meister!« Er griff nach ihrer Hand, starrte sie an, hielt sie sorgsam an seine raue Haut gedrückt. »Wölfe, Tränen und Kummer. Du bist der nächste Transformant, Bein und Asche!«
»Ich will nur nach Hause«, rief sie und entwand sich seinem Griff. Sie hielt es nicht
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