Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Erinnerung beschäftigt. »Diese hier habe ich eigens gekauft, als wir dort waren.«
»Du hast sie den ganzen weiten Weg von der Feste bis hierher mitgebracht?«, fragte sie überrascht. »Warum hast du sie nicht angezogen, als du im Salzsumpf voller Matsch warst?«
Er zuckte mit den Schultern und streckte die Hand aus, um ihr auf ihren Platz vor dem Feuer zu helfen. Seine Finger waren warm und ließen die ihren nur widerstrebend los. Er setzte sich auf den Teppich ihr gegenüber. Asche, er sieht gut aus, dachte sie und musterte ihn von oben bis unten. Sie hatte vergessen, wie exotisch er in seinem traditionellen Gewand aussah. Seine große, schlaksige Gestalt wirkte darin nicht mehr linkisch, sondern elegant. Sein schmales, vom Wind gegerbtes Gesicht verlieh ihm nun die Ausstrahlung eines Mannes, der jeden Sturm überstehen konnte. Der Schnitt seiner Robe erinnerte an eine Meisterweste, wirkte aber in seiner Schlichtheit echter, ursprünglicher. Es war, als vergleiche man ein mit Edelsteinen besetztes Armband mit einem schlichten silbernen Reif. Und Strell stand diese Robe wirklich besonders gut. Als Alissa merkte, dass sie ihn angestarrt hatte, riss sie ihm zum Spaß den Hut vom Kopf.
»Das ist meiner!«, protestierte er.
»Ich will ihn mir ansehen«, sagte sie neckend und hielt den Hut hinter sich. In seltsamer Friedfertigkeit blieb er, wo er war. Während er ihr hilflos gegenübersaß, unterzog sie den Hut einer gründlichen Untersuchung. Ihr Blick huschte in gespieltem Misstrauen zwischen ihm und dem Hut hin und her. Der Hut bestand aus gefärbtem Leder, in Sechsecke geschnitten und mit dunkler gefärbten Lederstreifen dazwischen vernäht. Er war rund und ähnelte so sehr einer Schüssel, dass sie ihn unpraktisch fand. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er gegen die Sonne viel nützt«, bemerkte sie und gab ihn Strell zurück.
Strell wirkte unerklärlich erleichtert, als er ihn entgegennahm. »Er ist nicht gegen die Sonne.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann mich nicht erinnern, so einen Hut im Tiefland gesehen zu haben.«
»Er ist aus dem Tiefland«, erwiderte er und setzte ihn wieder auf.
Alissa wartete auf eine weitere Erklärung, strich sich eine vom Wind in ihr Gesicht gewehte Strähne aus den Augen und befand, dass der Hut dennoch die faszinierendste Aufmachung, die sie je gesehen hatte, perfekt ergänzte. Als deutlich wurde, dass Strell nicht mehr sagen würde, wandte sie sich dem Zelt zu. »Hast du das aufgebaut?«, fragte sie, obwohl die Antwort ziemlich offensichtlich war, doch sie wollte irgendetwas sagen.
»Ja.« Strell widmete sich ganz dem Feuer.
Er blieb schweigsam, also stand Alissa auf und steckte den Kopf in das Zelt. Es enthielt nur eine dicke Schlafmatte und sein ramponiertes Bündel. »Nein, so etwas!«, rief sie aus, als sie merkte, dass der Zeltboden deutlich tiefer lag als der Strand. »Du hast den Boden ausgegraben.« Sie trat ein und stellte fest, dass der Teppich dicker war, als sie erwartet hatte. Sie fragte sich, wer ihn gemacht haben mochte, und hob den Blick zur Decke. Die befand sich zwei Handspannen über ihrem Kopf, so dass das Zelt von innen viel größer aussah als von außen. »Warum hast du den Boden ausgehoben?«, fragte sie und versetzte der Decke einen Klaps – sie war ordentlich straff, genau so, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte.
»So schwankt die Temperatur weniger«, sagte er mit angespannter Stimme.
Sie schwieg und lauschte der Brandung, deren Rauschen gedämpft durch die dicken Stoffwände drang. Ihre Neugier war befriedigt, also trat sie hinaus und nahm ihren Platz auf einem der zusammengerollten Teppiche vor dem Feuer wieder ein.
»Findest du …« Er zögerte. »Gefällt es dir?«, fragte er und strich sich mit einer Hand über den Bart.
»Das Zelt?«
Er nickte, und sie blinzelte. »Äh – ja. Schon. Die Farbe ist schön.«
Strell stieß langsam den Atem aus. Alissa sah ihn an und fragte sich, was heute Abend mit ihm los sein mochte. Er verhielt sich sehr mysteriös. »Willst du da drin schlafen?«, fragte sie. »Es wäre schön, einmal von den vielen Leuten fortzukommen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es sein wird, wenn sie alle wieder auf der Feste sind.« Sie biss sich auf die Unterlippe, denn sie konnte es sich sehr wohl vorstellen und freute sich keineswegs darauf.
»Vielleicht.« Strell stand auf und kniete sich vors Feuer, und ihr stockte der Atem bei dem Bild, das er dabei abgab. »Äh, wo ist Kralle?«, fragte er
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