Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
Nicht ohne List, denn er hoffte, sie noch einen oder zwei Tage auf Dérouca zu halten. Den Plan über Nacht reifen lassen, war sein Versprechen gewesen.
Weil es nun aber gar nichts gab, was über Nacht hätte reifen können, und auch den Freunden nichts Gescheites einfiel, schleppte der Spielmann einen Krug mit Wein in seine Kammer. Doch kaum, dass er seine Stiefel ins Eck geschleudert, die Beine ausgestreckt und daran gedacht hatte, dass die Lieb` eine süße Bitterkeit sei, war er ebenfalls erschöpft eingeschlafen.
5.
Der Mond stand als dicke Sichel hoch am Himmel, als der Trencavel und seine Männer beim Hain anlangten, der die östliche Grenze zum Landgut des Spielmanns war. Den ganzen Tag über waren sie zu Pferde gesessen. Die meisten Ritter, unter ihnen die Cabaret-Brüder, hatten sich bereits an der ersten Wegkreuzung von ihm verabschiedet, um in Carcassonne seine Ankunft vorzubereiten. Nach der langen Abwesenheit und der unsicheren Lage im Land gedachte der Vizegraf mit gehörigem Prunk in seine Stadt zurückzukehren.
So ritt Raymond-Roger nur mit einer Handvoll Bewaffneter auf Dérouca zu. Er freute sich auf zwei Tage Rast, bevor er dem Oheim und den Vögten begegnete und seine schlechten Nachrichten überbrachte. Zwei ganze Tage keine Aufpasser und Besserwisser, keine Bittsucher, keine Gesetze und Regularien ... keine nörgelnde Inés.
Seine sanfte Gemahlin, die sehr dickköpfig sein konnte, wenn es um ihre Wünsche ging, hatte durchgesetzt, dass Pater Hugo zum Lateinlehrer ernannt worden war. Eine List, ihre Schwester der Kirche wieder näher zu bringen?
Der Trencavel lachte spöttisch auf. Es würde einmal leichter werden, seinem Sohn Ray zu erklären, was Paratge bedeutete, als ihn in Glaubensdingen so aufwachsen zu lassen, wie es nötig war, um Katholiken, Katharer und Juden gleichermaßen gerecht zu werden. Ray! Zwar besaß er das rote Haar von Inés und ihre Sommersprossen, doch er hatte die schönen dunklen Augen seiner Tante Alix.
Der Trencavel zügelte am See sein Pferd. Er lauschte für eine Weile den Fröschen, erinnerte sich an seine Kindheit ... Einmal war er als Sechsjähriger mit seinem Oheim durch die Wälder und Felder gezogen, damit er sein zukünftiges Reich kennenlernte. Sie hatten Termes besucht - eine Burg kühn wie ein Falkenhorst, auf einem sehr hohen Felsen gelegen. Ringsum schier unüberwindliche Schluchten mit tosenden Wildbächen. Um zur Burg zu gelangen, musste sich jedermann zuerst in den tiefsten Abgrund begeben und von dort fast bis zum Himmel hinaufsteigen. Auf Termes hatte er Ramon kennengelernt, der ihm heute treu als Ritter diente. Während der Oheim und Ramons Vater im Burghof tüchtig dem Wein zusprachen, Forellen aßen, waren die Jungen auf bloßen Füßen, denn es war Sommer, vorwitzig bis zum äußersten Punkt des Felsens geklettert, auf dem der Donjon aufragte. Raymond-Roger kletterte ein Stück den Fels hinab, um nach einem Wildwasser Ausschau zu halten, dessen wütendes Lärmen er beim Aufstieg gehört hatte, und das nun tatsächlich vor ihm lag. Von einem der umliegenden bewaldeten Berge stürzte es in die Tiefe.
Raymond war frei von Schwindelgefühlen, doch als er plötzlich „sein Land“ vor Augen hatte, begann er vor Angst zu zittern. Da waren die blau-grauen Berge, aufgereiht wie ein Bühnenhintergrund. Zu ihren Füßen das stille, dunkle Tannenmeer und - gewissermaßen als Gegensatz dazu - die tiefrote Erde, die sich bis in die Hochebene, die Garrigue, zog, deren süßer Wildblütenduft ihn auf dem ganzen Ritt begleitet hatte. All das würde bald ihm gehören.
Ramon von Termes, der ihn bei seiner Ankunft ob der blonden Haare ganz erstaunt angesehen, dann jedoch mit einem „ Be siatz vos vengutz“ und einem fröhlichen Lachen willkommen geheißen hatte, hielt ihn die ganze Zeit über am Arm fest, bis er wieder zurückgeklettert und auf sicherem Boden war. Dann sagte er mit seiner rollenden, bäurischen Sprache – er konnte kein Latein: „Du wirst einst ein großer Herrscher werden, erzählt mein Vater, doch, hélas , jeder Mensch braucht einen Freund. Lass mich der deine sein, für immer!“
Und hier, auf Dérouca , bei Villaine, wo für gewöhnlich ein lustiges Wort das andere gab, hier hatte er ebenfalls Freunde auf ewig, hier konnte er die Sorgen für eine Weile vergessen, Mensch sein, nicht Vizegraf. Sollte es ein zweites oder drittes Leben geben, wie die Katharer und sein Oheim behaupteten, so wünschte sich Raymond-Roger nichts
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