Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
mag sie in ihre schützenden Arme nehmen.“ Mit diesen Worten rauschte sie davon.
Nicolas nickte, aber im Herzen war er beunruhigt.
Rasch steckte er den Brief in seine Kutte und eilte in die Kapelle.
Dort war es dunkel und kalt, und es roch nach Mäusedreck und altem Weihrauch. Das einzige Licht fiel durch das kleine, seit Jahren völlig verschmutzte Rosettenfenster, das nach Osten ging. Längst verblasst waren die schönen Fresken, kaum dass man den Sündenfall noch ahnen konnte. Was konnte er machen, wenn Doña Agnès sich weigerte, die Kapelle zu betreten, geschweige denn Geld zur Verfügung zu stellen, um sie wieder herzurichten? Die Herrin betete lieber in der Krypta der Schwarzen Jungfrau von den Tischen, wie all die anderen Damen auch.
Die Reiter des Erzbischofs hatten den Sarg vor dem Altar abgestellt. Der Priester tastete sich im Dunkeln vorwärts bis zur kleinen Seitentür, die auf den Kirchhof hinausführte. Sie stieß er weit auf, damit Licht und Luft hereinkamen. Dann verbeugte er sich vor dem Sarg und sprach ein Gebet, wobei sein Auge auf dem alten steinernen Engel mit dem Buch in der Hand verweilte, der nicht nur das Meer und das Land zu seinen Füßen bewachte, sondern auch das Fresko daneben, mit den drei Jungfrauen: Maria Salome, Maria Magdalena und Maria Jacobi - wie sie einträchtig im Schiff saßen.
Als Nicolas den Sargdeckel vorsichtig hochstemmte, schlug ihm ekelhafter Gestank entgegen. Entsetzt ließ er den Deckel wieder fallen, lief auf den Kirchhof hinaus, an die frische Luft. Er setzte sich auf einen umgefallenen Grabstein, um nachzudenken. Weshalb war die Leiche nicht in einen Leinsack gehüllt, wie dies üblich war? Warum hatte Alix die Schmuckärmel nicht getrennt vom Sarg nach Hause geschickt? Sie wusste doch, wie lange die Reiter unterwegs sein würden!
Dann diese kurzen, kalten Worte, die sie ihm geschrieben hatte. Wo war nur ihre überschäumende Lebenslust geblieben? Welch ein Unterschied zu den Briefen, die von Inés aus Carcassonne kamen. Offenbar war die Wunde, die der Erzbischof Alix` Herzen zugefügt hatte, noch nicht vernarbt. Doch was, wenn sie im Sarg eine weitere, eine heimliche Botschaft versteckt hatte?
Es half nichts, Nicolas musste sich Gewissheit verschaffen.
Zurück in der Kapelle, band er sich eines der vergilbten Altartücher um Nase und Mund und öffnete erneut den Sarg. Mehr als einmal rannte er hinaus, um sich neben der Kirchhofmauer zu übergeben, bevor er mit spitzen Fingern die Schmuckärmel vom Gewand gelöst hatte.
Was die Perlen anging, so hatte Alix nicht gelogen. Sie waren wertvoll. Die Ärmel selbst, durchnässt und stinkend, konnten wohl nicht mehr veräußert werden.
Vorsichtig tastete er sie ab, und bereits beim ersten fiel ihm eine ziemlich schief genähte, breite Falte auf. Irgendwann musste der linke Ärmel einen Riss abbekommen haben! Die krumme, schlampige Naht, eher grob zusammengezogen, denn fein säuberlich versteckt, deutete jedoch nicht auf Estrella, sondern auf Alix hin - die niemals Freude an Näharbeiten gehabt hatte, sondern immer nur an Büchern und Schriften.
Spatzen flogen herbei, sie zankten und flatterten. Nicolas zögerte. Gedankenverloren beobachtete er die Vögel. Dann legte er die Ärmel auf den Grabstein und lief noch einmal zurück, das alte Messer zu suchen, mit dem er früher die Kerzendochte zugespitzt hatte. Mit ihm löste er die Perlenschnüre, bevor er die schiefe Naht durchtrennte.
Aus der Tiefe der Falte kam tatsächlich ... ein Pergament zum Vorschein. Vorsichtig rollte er es auf … Die Schrift darauf war winzig, ja, sie war zu seinem Leidwesen so klein, dass seine Arme nicht lang genug waren, um die Nachricht lesen zu können.
Er brauchte fremde Augen …
Doch wem in Montpellier konnte er eine Botschaft anvertrauen, die offensichtlich heikel und obendrein nur für ihn bestimmt war?
Tags darauf ließ er sich bei Wilhelm von Fleix melden. Der Bischof von Montpellier war ein strenggläubiger, aber auch umgänglicher Mann, der mehr mit Güte als mit eiserner Hand über die Katholiken von Montpellier herrschte. Ächzend, weil ihn die Knochen schmerzten, sank Nicolas vor Fleix auf die Knie und küsste seinen Ring.
„Gelobt sei Jesus Christus, dass Ihr mich vorgelassen habt, Ehrwürdiger Vater. Ich brauche Eure gütige Hilfe und Euren Rat …“
Nachdem er ihm den Zusammenhang erklärt hatte, reichte er ihm das Pergament. „Verzeiht, dass das Brieflein noch immer etwas … riecht, Ehrwürdiger“,
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