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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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könnte einen Nihilisten anlocken. Nihilismus heißt nicht, an nichts zu glauben, sondern nicht an das zu glauben, was ist. Wenn man seit geraumer Zeit nur noch Wirkungen bekämpft, muß eine Ursache dran glauben. Nein heißt Ja, weil Zerstören Aufbauen heißt. Zorn ist Futurismus.
    Reste zersprengter Schubladen baumeln nutzlos am Gedankendraht: die alten Kategorien haben’s nicht mehr in sich. Funktionslos Gewordenes tötet keinen Nerv mehr. Eine unerhörte Anstrengung steht bevor: Auflehnung gegen die Macht der Bedingung. Gegen die Macht der Gewohnheit. Gegen die Macht der Ohnmacht. Gegen die Hölle der Situation. Das nicht länger verleugnete Gefühl wartet auf die Tat. Das Possenspiel will um sein. Zu lang gehaftet an der Unwahrhaftigkeit, zu oft sich nicht verhalten einem Mißverhältnis gegenüber. Wie lange noch im eigenen Fahrwasser kielgeholt werden? Mit Aufruhr das Meer geteilt, Bug der Schmerzen! Mit Liebe durchbrennen, was Haß auslöst. Aufstand gegen das Festsitzen. Von unter der Haut springen die Funken über. Auf dem Körper zeichnet sich ein archaisches Symbol ab. Für den Kriegspfad. Aletheia heißt in der Antike: das Nichtverborgene. Sich bekennen zu den Eigenschaften, die man wirklich hat. Unverhohlenheit. Revolte heißt: nur deshalb einmal vor dem Nichts stehen, weil man alles gegeben hat.
    Der 16. Dezember war ein prima Tag zum Emigrieren. Die Poussin-Vorlesung fand nicht statt, der ganze Tag fiel gleich mit ins Wasser, es regnete ununterbrochen, und auf Aljoscha fiel der Regen offenbar aus einer Extrawolke. Nach dem Seminar bei Madame Woronska wanderte er zur Kunsthalle, in der Hoffnung, einen Poussin im Original zu sehen. Aber keiner der Säle bot das Gesuchte, und die Miene des Uniformierten, den Aljoscha nach dem Maler Nicolas Poussin fragte, verfinsterte sich unheildrohend,so als hätte der Mann die Albernheiten satt. Schütter war sein Haar und malmend sein Gebiß und eckig seine Knochen. Aljoscha verließ den Musentempel wieder, immer noch urinierte der Donnermann,
    NOW I SEARCH FOR HOURS
    und beschäftigt mit der Frage, wie SIE wohl diese Stunde zubrachte,
    I ONLY STOP WHEN IT HURTS A LOT
    stiefelte Aljoscha ohne Ziel umher und schaute unter jeden Regenschirm. Zu etwas verdammt sein, das ist schlimm. Zu nichts verdammt sein, das ist schlimmer.
    Zuletzt verschlug es Aljoscha in einen Schallplattenladen. Ein alter schwarzer Bluessänger sang alten schwarzen Blues. Der Mann an der alten schwarzen Kasse sah aus wie Majakowski. An einem Ständer hingen T-Shirts. Aljoscha sah sie gelangweilt durch, bis er eines mit dem Erkennungszeichen des Kollektivs Einstürzende Neubauten fand. Auf dem schwarzen Stoff zeichnete sich ein archaisches Symbol ab, das an eine Höhlenmalerei der Frühzeit erinnerte. Nur war hier kein Tier dargestellt von Menschenhand, sondern eine menschliche Gestalt, die so wirkte wie die Vorstellung, die ein Tier vom Menschen haben könnte. Ein Rückgrat, davon ausgehend Arme und Beine, statt Händen oder Füßen nur die Andeutung einer atavistischen Drehung der Extremitäten; der Kopf ein Kreis, überdimensional vergrößert, und in den Kopf-Kreis war ein Mittelpunkt gemalt. Wie der Herzmittelpunkt in der Umrißzeichnung eines Elefanten in der Pindal-Höhle, 12000 Jahre alt. Was bedeutete dieser Mittelpunkt hier? Gesicht? Blick? Brennpunkt? Verdacht auf Innewohnendes? Vermuteter Sitz einer Matrix, die für unfaßbare Vorgänge im Innern der Gestalt verantwortlich ist?
    Reduktion auf das Wesentliche, äußerste Stilisierung, äußerste Verdichtung. Diese Figur, dieses ins Quintessentielle implodierte Menschlein, strahlte gespenstische Intensität aus. Unheimlich stand es da wie die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, unheilschwanger in seiner primitiven Indifferenz, und lud sich auf mit Exzentrizität – mit extremer Abweichung vom gegenwärtig eingenommenen Punkt.
    Aljoscha ließ die Nachmittagsvorlesung ausfallen, da er mit Madame Woronska verabredet war, um ein Thema für seine Semesterarbeit auszuhandeln. Er hatte sich für 15Uhr 15 eingetragen, damit er die Metro, die um 16Uhr 02 vom Bahnhof Damtorsk abfuhr, nicht verpaßte. Um 15Uhr 30 wartete er noch immer vor Madame Woronskas Zimmer im 10. Stock des Philosophenturms. Um 15Uhr 40 war noch eine jungeDame vor ihm an der Reihe, und er ging auf und ab mit dem Geist eines Postreiters zwischen den Fronten. Um 15Uhr 45 knöpfte er den Mantel wieder zu über dem schwarzen T-Shirt mit der archaischen Figur. Er hatte

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