Aljoscha der Idiot
Dilettant, habe nur ein Bettlerherz. Alexandra hat es gesehen, dieses Bettlerherz. Awdotja auch.“
„Bettlerherz?“
„Um etwas flehen, wovon man meint, es gleicht das Gefühl der Unwürdigkeit aus. Hatte ein wenig die Übersicht verloren in der Hoffnung, mich aus dem Staub zu erheben. Man kann nichts erzwingen. Ich komme mir sehr lächerlich vor, wenn ich daran denke. Nicht, daß ich die Heftigkeit meines Gefühls zurücknehme, aber diese Heftigkeit war nur in mir. Und nur da gehörte sie auch hin. Diese kindischen Verhaltensweisen… es war die Aufregung darüber, den Ausgang aus einer 360-Grad-Kurve gefunden zu haben. Oder jedenfalls über den Entschluß, diesen Ausgang wirklich suchen zu wollen. Wirklich daran zu glauben, daß wir alle das Recht haben, unseren Atem irgendwie zu retten. Daß es mir dann unmöglich war, die Form zu wahren, hat nur meine Verzweiflung bewiesen.“
„Was wird jetzt geschehen?“
„Ich weiß es nicht, Aljoscha.“
„Warum wird es geschehen?“
„Wer weiß, nach welchen Mustern sich Verbindungen knüpfen.“
Im Hintergrund ein Lied ohne Worte, Welten taten sich auf und zogen vorbei, und zwischen sieben Kerzen lag das Wissen, für jeden und für alles gibt es einen, der nicht nur murrt „Versteh’ ich nicht“ – das Wissen, daß manche nur mit einem goldenen Traum auf die Reise geschickt werden, eigentlich unzulänglich Ausgestattete, jedoch mit einem Herz voll Zubehör, das zum Hab und Gut für irgendeinen irgendwo geeignet wäre… auch wenn sie eine Liebe bringen, der tapfer standgehalten werden muß.
„Ich habe nicht gewußt, wie feinfühlig eine Frau ist, wenn sie liebt… noch nie hat mich eine Frau gefragt, was Elena mich fragt. Noch nie hat eine Frau so von mir wissen wollen. Ich kenne selbst noch kaum die Antworten. Aber zum ersten Mal traue ich meinen Träumen. Weil zum ersten Mal nicht ich es bin, der sie erregt.“
Das Lied ohne Worte hieß Memory Gongs.
Bruder für ein Jahr und einen Tag. Vielleicht wird es noch einmal so sein an einem silbernen Meer. Eine Narrenprozession am Horizont. ZweiTöne, die sich abwechseln, weil Wind durch eine Geisterharfe weht. Den Fuß auf heiliger Erde, zwischen den Rossen, die Lotus rupfen, noch einmal zwei Gefährten am Vorabend des Unfaßbaren, am Ende einer Zeit. Es stand geschrieben, daß wir Realisten wären in der Sphäre des Phantastischen. Vielleicht wird es wieder so sein, wenn alles war, was immer ist. Daß wir uns Mut und Willen leihen, damit Liebe die Rüstung der Athene tragen kann.
26
Man hörte das Krächzen der darbenden Raben, rieb sich die Wangen und ging über bläulich schimmernden Schnee, bis man zu den Buden kam. Ein Jahrmarkt im russischen Winter. Der Leierkastenmann, den sie den Fürsten nennen. Die alte Frau, die heiße Maronen und kandierte Äpfel verkauft. Die Bude mit dem Kraftprotz. Das Karussell mit Schwänen, sieben weiß und einer schwarz. Die Bude mit dem dressierten Tanzbären. Und schließlich die Petruschkabude.
Jeden Tag dieselbe Farce mit Petruschka, der Ballerina und dem Mohren: Holzpuppen, die der Zeremonienmeister ihres Schicksals, der Puppenspieler, jede Nacht gedankenlos verstaut. Doch eines Nachts, berührt von einem Zauber, der wie ein Stromstoß wirkt, erwacht Petruschka in seiner Kiste plötzlich zu Eigenleben. Ruckartig und steif sind die ersten Bewegungen der staunend autonom gewordenen Marionette. Als erster Gedanke durchzuckt ihn dieser: ich habe Angst davor, Angst zu haben, und dann habe ich die Angst, vor der ich Angst hatte. Aber dann: weg mit dem Schauder vor der Realität! Petruschka ist gewillt, vor den Mächten Die Da Sind sein trotziges Fäustchen zu schwingen. Denn er liebt die Ballerina! Und im Namen der Liebe ist alles erlaubt! Ausnahmezustand!
Heiße Maronen! Heiße Maronen!
Feuer ist angezündet in Petruschka, die Flamme der Unberechenbarkeit – liebeglühend wird ein Wesen unaufhaltsam – außer Rand und Band gerät er, bedroht seinen Zwingherrn und Schinder mit linkischen Gesten –
Es war die Nacht des 11. Januar, und Aljoscha sah einen Film über den Tänzer Vaslav Nijinsky. Geboren 1889, gestorben 1950, in geistigeUmnachtung gefallen 1919. Nijinsky war der Gott des Tanzes. Ein scheuer, schweigsamer Mann im Straßenanzug, eine dionysische, androgyne, fremdartig schöne Kreatur auf der Bühne – tragischer Petruschka, wollüstiger Sklave der Scheherazade, ungezogener Harlekin, Geist einer Rose, Faun. Als Vaslav sind ihm alle Wasser zu tief, alle
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