Aljoscha der Idiot
vor denen jede Schamlose erblassen müßte. Frauen, deren Blick die Nacht durchdringt und die Umrisse des Unsichtbaren kennt. Ich weiß jetzt, was diese Frauen tun.
Bei Tag erschrecken sie mit dem harten, despotischen Geräusch ihrer hohen Absätze, um zu verbergen, daß sie nachts mit unhörbaren Schritten geheime Muster auf den Boden zeichnen, Zauberkreise, Strahlenfelder; daß sie eine andere Gestalt annehmen, lautlos und geschmeidig durch die Gassen huschen und einem unergründlichen Instinkt folgen: dorthin, wo sie ein vertrautes Fluidum ahnen. Ich weiß jetzt, was der Spürsinn einer solchen Katze tut.
Der Spürsinn einer solchen Katze nimmt Quartier bei einem, dem sie sich verwandt weiß. Sie hat seine verborgensten Neigungen erkannt und macht sich selbst zu ihrem Anreiz. Ihre Nähe verändert seine fünf, sechs, sieben Sinne. Er durchquert vergessene Regionen, versunkene Domänen; immer deutlicher sieht er die Welt, in der sie nach ihm sucht. Bis er weiß: wenn er ihr endlich begegnet, ist er ihr schon einmal begegnet.
Das ist, was die Mädchen tun, die sich verstecken vor den Katzenhassern.
Am 8. Januar setzte violettes Schneegestöber ein, und Aljoscha setzte seine schwarze Baskenmütze auf. Die er auf russische Art in den Nacken gezogen trug, als er zur Universität fuhr, um an diversen Schwarzen Brettern Zettel zu befestigen. Er begann mit diesen Zetteln seine Wohnungssuche. Leda hatte ihre Suche schon begonnen. Sie würden nicht zusammen wohnen. Wie Sartre und Simone de Beauvoir.
Wie Sartre und Simone de Beauvoir sich zu Sterben und Tod geäußert hatten, das, so war es mit Madame Woronska abgesprochen, sollte seinThema für die Semesterarbeit sein, und Aljoscha kehrte mit einer Tasche voller Bücher von der Universität zurück, darunter auch ein Roman Simone de Beauvoirs, der beileibe nicht die ergiebigste Quelle für seinen Aufsatz war, aber er hatte Leda versprochen, auch dieses Werk zu erwähnen. Leda liebte diesen Roman.
Sie hatte ihm einmal auf Postkarten eine Reihe von Zitaten daraus geschickt, Sätze, die sie bedeutsam fand für das, was aus ihm und ihr ein Wir machte. Am Abend dieses 8. Januar blätterte Aljoscha vor und zurück in diesem Buch, auf der Suche nach der Zeit, in der die Bedeutungen noch immer die gleiche Bedeutung hatten. Aber schon bald ging ihm das Papier nur noch mechanisch durch die Hände. Und während er beim Blättern die Buchstaben über die Seiten zu schütten begann, bewegte sich in seinem Geist erneut jene schwarzglänzende Unruhe, deren preziöse Posen so betörend waren. Jede Regung dieser schmiegsamen Verlockung war aufgeladen mit erotischer Berechnung, gleichgültiger Hoheit und gelassenem Genuß. Der Kontakt mit diesem schwarzen Glanz mußte elektrisierend sein. Ein hochmütiger Schatten von seidiger und luxuriöser Eleganz, manieriert, gespreizt, sich inszenierend als elastisches Gewebe aus Diskretion und Darbietung, als eine sich verhüllende Zurschaustellung. Ein Geschöpf der Nacht mit einer egoistischen Lust an der Perversion, uninteressiert an den Dramen, die es verursacht…
Das Telephon klingelte.
„Falls es dich interessiert“, sagte Leda, „der Test war negativ. Ich bin nicht schwanger. Entwarnung.“
Aljoscha sah sich um nach einem Beil, mit dem er sich den Schädel spalten konnte. Heute war der entscheidende Tag, und er hatte nicht voller Ungeduld bei ihr angerufen. Leda mußte ihn anrufen. Was er auch tat, war Untat. Aljoscha erklärte sein Versäumnis, so gut es eben ging, bat um Verzeihung – und währenddessen schlich noch immer der seidigschwarze Schatten durch sein Hirn.
„Sehen wir uns Sonnabend?“ fragte Leda eisig.
„Ich fürchte, für die Klausur muß ich auch noch sehr viel tun.“
Das mußte er tatsächlich. Er wußte nur nicht, ob er log, um die Wahrheit zu sagen, oder ob er die Wahrheit sagte, um zu lügen.
„Liest du auch den Roman von Simone de Beauvoir?“
„Natürlich lese ich den.“
„Dann denkst du ja vielleicht hin und wieder doch an mich.“
„Ist das dein Ernst?“
Leda schwieg, und ihr Schweigen teilte mit, daß sie keineswegs einen Scherz gemacht zu haben glaubte.
„Also schön, c’est fini.“
Aljoscha verstand nicht. „Was ist zu Ende?“
„Dieses Gespräch. Ich möchte jetzt schlafen.“
Und als Leda schlief, und das Synchronizitätsradio eine gewisse Handlungsfreiheit hatte, spielte der Sender am Ende der Welt einen französischen Schmachtfetzen, der auch denen, die kaum ein Wort
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