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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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derselben Stelle empor, als würde die lüstern pulsierende Erde erbarmungslose Schocks versetzen, archaischer Terror ging ihr an den Leib, und das Unheimliche war, sie verzog bei alldem keine Miene. Ihr Gesicht war wie das einer Puppe mit schreckstarren Augen.
    Und Aljoscha hatte sie verstanden.
    Musik, aus der es kein Entkommen gab, Musik, die unausweichlich ihre Opfer fand, die schmerzenden Dissonanzen, sie würden keine Auflösung mehr finden. Aber er würde keine Miene verziehen. Gewillt, sich dieser Macht zu geben, die sinnvoll zu beschreiben nur durch Anagramme eines Analphabeten möglich war, stand Aljoscha in der Nacht der Pferdeschädel und erwartete den Anbruch eines Morgens, der anders wäre, unvorstellbar anders.
    Eine Nacht mit Nijinsky: erst die Marionette, die gegen die Mechanik aufbegehrt und ihr eigenes Spiel beginnt. Und dann die Gewißheit, daß ein Opfer bevorsteht, eine Existenz, bei der sich alle Rhythmen selbst in Fetzen reißen und das Publikum vor Abscheu alle Wände hochgeht. Aljoscha, der das Gefühl hatte, daß sich auf seinem Körper ein archaisches Symbol abzeichnete, besorgte sich am nächsten Tag Strawinskys Le Sacre du Printemps, und er hörte die Musik an jedem dunklen Januarmorgen, noch bevor er aufbrach, und in jeder Nacht, um seine Träume zu dirigieren.

27
    Kant sagte, daß man auf einem kollerichten Pferde weniger gut paradiere als auf einem Schulpferde. Aljoscha blieben nur noch ein paar Stunden, um sich auf die morgige Klausur vorzubereiten, um aus dem Pferd für den Hindernisparcours noch einen Gewinner zu machen. Der Gaul sah kollerich aus. Aber Hals ab! Wie sollte er für eine Prüfung lernen, wenn morgen auch Dienstag war? Es war eine Nebenfach-Prüfung, und mehr neben ging jetzt schon mal gar nicht, es war ja alles einerlei, wenn er SIE nur wiedersah. Aljoscha legte sich ins Zeug, auch wenn der ganze Prüfungsstoff ihm augenblicklich wie reiner Firlefanz erschien. Wenn er verlor, verlor er. Die wahre Prüfung fand nicht auf Papier statt.
    Am Dienstagvormittag sank sein Mut mit einem Schlag. SIE war nicht zur Poussin-Vorlesung gekommen. Seine ganze Vorbereitung war kalter Kaffee. Wie konnte er zur Prüfung gehen, ohne SIE gesehen zu haben? Es war Französische Revolution. Schreckensherrschaft. Im Angesicht der Guillotine. Er würde den Kopf unter die Klinge legen müssen, ohne daß jemand ihm den Trost gewährte, seinen Blick bis zur letzten Sekundezu erwidern. Sollten sie einen anderen prüfen. Er war unkundig. Er war falsch informiert. Er war hirntot.
    Als er sich in den Prüfungssaal setzte, gab es nur noch eins: die Vorstellung, für SIE auf die Folterbank gebunden zu werden, für SIE alle Torturen zu überstehen. Jawohl! Er mußte leiden, es hatte seine Ordnung, wenn er litt. Dieses Bad in einer Wanne voller Skorpione war gerade angemessen temperiert für ihn. Wenn SIE ihm die Marter der Hoffnung auferlegte, wollte er gemartert werden! Aljoscha brannte wie des Teufels Streichhölzer, improvisierte, ermittelte einige geistige Abzweigungen per Losverfahren, setzte alles auf eine Karte und dachte sich ein As in den Ärmel. Nach zwei Stunden gab er sechs vollgeschriebene Bögen ab, und nun zur Hölle! Oder vielmehr, endlich aus ihr heraus!
    Vielleicht war SIE zurückgekehrt in IHRE eigene Zeit. In IHRE eigene Gestalt. Vielleicht hatte er zu lang gezögert, vielleicht hatte er damit die Realität wieder auf ein bloßes Phantasma reduziert. Vielleicht war SIE einfach noch in Frankreich.
    Nein, sagte Januar, der grausamste der Monate.
    SIE erschien auch nicht in der Damtorsk-Station. SIE war endgültig wieder verschwunden hinter den Schleiern, die verbergen, was enthüllen zu wollen endlose Pein bedeutet. Und was nicht zu enthüllen noch endlosere Pein bedeutet.
    Romola, die Gemahlin Nijinskys, ungarischer Herkunft, zitierte in ihren Memoiren ein Sprichwort ihrer Heimat: Man soll einem Heuwagen, der einen nicht mitnehmen will, nicht nachlaufen.
    Aljoscha kannte auch ein Sprichwort, und es hieß: Wenn man sein Haus in der Wüste baut, wird irgendwann das Haus zur Wüste.
    Leda kam. Ihr Instinkt hatte ihr schon alles gesagt, und Aljoscha hatte sich nur noch auf den Flammenstuhl der Anklage zu setzen. Sie saß ihm gegenüber und sah so schrecklich einsam aus. Aus der Balance genötigt, nicht mehr in sich ruhend, nie mehr in sich ruhend. Wie eine schöne Sängerin, die alles hinter sich gelassen hat und über ein Meer gereist ist, um in einer Goldgräberstadt zu singen, und

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