Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
Vom Netzwerk:
jetzt ist die Stadt verlassen. Aljoscha sah in ihre wunden Augen, die wie ein Nachruf waren und sich mit Asche überzogen. Leda hörte die Geschichte, die Aljoscha, als er sie erzählte, wie eine Fabel vorkam, und wenn sie ein Warum enthielt, dann hörte Leda es nicht mehr. Sie weinte bitterlich. „Du liebst mich gar nicht!“ rief sie. „Du liebst mich nicht!“ Ihr Schluchzen war so hilflos und entsetzlich, daß kein anderer Wunsch mehr möglich war… als nur diesen Schmerz zum Irrtum zu erklären.
    Überlebende haben angeblich berichtet, daß der Anblick der Titanic, als sie ihr Heck zum Himmel hob, um dann fast senkrecht auf den Meeresgrund zu schießen, von traumferner Erhabenheit, ja beinahe Schönheit war. Jede Realität kann surreal werden, selbst wenn sie Knochen bricht oder die Luft zum Atmen nimmt. Jede Panik kann den wahnsinnsnahen Punkt erreichen, an dem die Wahrnehmung sonderbar apathisch wird. Die Katastrophe war über sie gekommen, aber als der erste Schreck sich gelegt hatte, fand sich Leda mit Aljoscha wieder in einer Nußschale des Entronnenseins, in der sie ihm so nahe war wie lange nicht. Inmitten des Grauens steht der Mensch auf einmal neben sich. Vielleicht, daß sich die bloße Existenz verklärt. Kein Lächeln ist so sanftmütig wie jenes, das verwundert ist, weil es noch da ist.
    „Und was sollen wir nun tun?“ fragte Leda.
    „Was würdest du denn tun wollen ?“ fragte Aljoscha.
    „Was ich will…“ – Leda blickte zur Seite. Gott weiß, was sie da sah. Die Welt sieht nicht mehr aus wie vorher, wenn man die Bedeutung von fünf Worten ganz versteht: man kann nie sicher sein.
    „Weißt du, was mich so entsetzt? Daß du überhaupt bereit gewesen bist, all das zu sehen. Daß du bereit gewesen bist für einen solchen Blick aus fremden Augen.“
    „Ich habe zu glauben begonnen, daß es Absichten gibt, denen man nicht ausweichen kann.“
    „Was für Absichten? Avancen?“
    „Nein, nein, nein… Absichten des Unbekannten.“
    „Aljoscha! Willst du behaupten, daß du dich nicht entziehen kannst, wenn eine Frau dich kennenzulernen versucht?“
    „Wenn sie was?“
    „Es ist doch offensichtlich, daß sie dich kennenlernen will!“
    Vielleicht lebte er hinterm Mond, wahrscheinlich sogar in Nowosibirsk, aber es schien ihm eine durchaus unzutreffende Vorstellung, daß die Katzenmenschenfrau ihn kennenlernen wollte. SIE schien sich nicht auf einer derartigen Ebene zu bewegen. SIE wirkte nicht im mindesten so, als wollte SIE irgend jemanden kennenlernen.
    Es hatte vielmehr den Anschein, als kannte SIE ihn bereits.
    „Ich kann verhindern, daß sie mir näherkommt“, sagte Aljoscha und dachte: Ahab hüte sich vor Ahab. „Aber was bedeutet das schon? Ich weiß, was ich getan habe. Ich weiß jetzt, daß ich dich nicht glücklich machen kann.“
    „Du kannst es, Aljoscha. Und du weißt es.“
    „Dein Lachen wird von jetzt an so verzweifelt sein wie dein Weinen.“
    „Warum mußt du immer irgendwo nach Gold suchen?“
    „Ich habe mit dir zusammen gesucht“, sagte er. „Aber auf einmal war ich allein am Goldfluß. Ich merkte es erst, als die Stille drückend wurde.“
    „Wann?“
    „Ich weiß nicht. Zu spät.“
    „Ich sehe immer nur die Einzelheiten“, sagte Leda. „Wenn ich dir das Ganze beschreiben wollte, hatte ich keine Worte.“
    „Ich habe trotzdem hingehört.“
    „Jetzt würde ich nur noch das Große sehen. Aber es liegt wahrscheinlich an den kleinen Dingen.“
    „Vielleicht.“
    „Und als wir uns verloren hatten… was geschah da mit dir?“
    „Was ich dir gerade erzählt habe.“
    „Nein, nicht was geschah. Sag mir, was mit dir geschah.“
    „Da ist kein Unterschied.“
    „Deine Offenbarungen machen einen völlig blind, weißt du das? Aber es ist mir gleich. Mir ist auch gleich, wann wir uns verloren haben. Ich will nur wissen, ob ich dich noch erkenne… falls wir uns noch einmal wiederfinden. An diesem Goldfluß.“
    Sie liebten sich in dieser Nacht, als würden sie am frühen Morgen den Löwen vorgeworfen. Sie hielten sich, als drohte einer aus den Armen des anderen in einen Strudel gerissen zu werden. Sie hofften auf ihre Körper als Berichterstatter des Unsagbaren. Und doch, auch dieses fieberhafte Rufen wurde unversehens Totenstille. Und schädelhaftes Sichansehen.
    Und schon anderentags suchte Aljoscha, einem Magnetismus folgend, zu dem nur der Magnet fehlte, wiederum die Wege und die Stätten, von denen er vermeinte, daß sich dort noch IHRE Spuren zeigten.

Weitere Kostenlose Bücher