Aljoscha der Idiot
Er ging in die Bibliothek der Kunstgeschichtlichen Fakultät, wo er keinen der verwinkelten Korridore unerforscht ließ; wieder und wieder überprüfteer, wer sich zwischen den mürben Regalen mit den Abertausenden von Kunstbänden aufhielt. Zwischen den Patrouillen fertigte er aus einem opulenten Werk über Poussin Exzerpte an. Da saß er unter dem Baum der Erkenntnis, und verfaulte Früchte fielen ihm auf den Kopf, zur Strafe für sein fadenscheiniges Gebaren. So verging der Nachmittag. Und statt jetzt einen langen Brief zu schreiben, aus dem Leda Zuversicht gewonnen hätte, oder zu ihr zu gehen, gerade heute, um die düsteren Phantome zu verscheuchen, um wenigstens als anständige Vogelscheuche aufzutreten, beugte sich Aljoscha im Archiv auch noch über die Ordner mit den Arbeiten der Kunstgeschichtsstudenten, mit der fixen Idee, einen weiblichen Vornamen zu finden, auf den ein französischer Nachname folgte. Es folgte kein französischer Nachname auf irgendeinen Vornamen. Décembre 9 war hundert Jahre her.
Es schneite, als Aljoscha am Abend noch einen Gang über den Campus machte. Ein erleuchtetes Foyer, ein vollbesetzter Hörsaal, ein Symposion, an dem Professor Warnkin teilnahm. Vielleicht war der erste Schutzpatron ein Lockvogel.
Doch nichts, nichts; ein einziger menschenmassenförmiger Widerspruch. Aljoscha spähte in alle Richtungen, bis ihm seine Mißachtung der Vorgänge auf dem Podium selbst grotesk erschien. Die Welt ist größer als die Welt, die der ersehnte Mensch regiert. Der Augenblick, in dem man das beklagt, ist der Augenblick, in dem sogar der Anstand einer Vogelscheuche futsch ist.
Es lag ja schon am Schnee. Die paar Katzen, die den Schnee nicht scheuen!
Die hohen Absätze, die schlanken Fesseln befinden sich für mich in Augenhöhe. Der hoch geschwungene Schuh beschreibt einen Bogen, der gewissen Zuständen meiner Physis entspricht. Jedes Bein wird durch solch einen Bogen in eine Spannung versetzt, die mir als natürlicher Zustand bekannt ist. Darum liebe ich es, diesen Bewegungen zu folgen. Ich kenne ihren ganzen Tiefsinn. Ich liebe es, mich an einem hoch und herrisch aufragenden Bein zu reiben und fühlen zu lassen, daß mir eine Art von Huldigung entströmt. Schon von fern überträgt sich meinem Fell das Knistern, elektrische Ladung, die mir alles sträubt. Manche von uns ziehen Katzenminze vor. Die läßt wunderliche Hüpfer tun. Ich dagegen berausche mich am unablässigen strahlenden Einfluß aller Wesen und Dinge aufeinander.
Den fünften Kopf nannte Pjotr Das begrenzte Universum. Das Universum ist unbegrenzt, aber endlich. Das individuelle Universum ist begrenzt, aber unendlich: der begrenzte Traum der unendlichen Möglichkeiten. Erst Begrenzungsvermögen erlaubt Persönlichkeit, erst Formen geben Identität. Erst im Tun des Naheliegenden wird Zukunftsmusik laut. Das Gegenteil von Hoffnung ist Gewißheit und das Gegenteil von Sehnsucht ist Narkose: zwischen allen Gegenteilen ist ein Seil gespannt. Jeder Schritt ist Bewegung über einem Abgrund. Der Seiltänzer, Brennpunkt aller Gegensätze, bewegt sich zwischen Sicherheitsbedürfnis-Trakt und Leitstern-Nebel, zwischen Freiheit und Fixiertem, zwischen Mechanik und Magie, zwischen Fels und Bröckeln. Über dem ständigen Perduseinkönnen von allem übt er sich, sein Wesen aus Gewesenem heraus zu wollen, Genius immerzu, obschon sein Ort ein Paradoxon ist: das begrenzte Universum. Eins sein mit dem Streben oder nichts sein. Kein Seiltanz, der nicht unter Eros steht. Denn alles Streben – die Strecke zwischen Begrenzung und Vermögen –, alles Streben ist erotisch.
Leda war zu einer neuen Einschätzung gekommen, nicht im trügerischen Goldglanz des Kerzenlichts, sondern am hellichten Tage.
„Mein Vertrauen zu dir wird täglich kleiner“, sagte sie.
„Dann ist schon alles verwirkt“, sagte Aljoscha. „Man vertraut ganz oder gar nicht.“
„Da irrst du dich. Und warst du es nicht, der mir noch vor kurzem sagte, das einfache Entweder – oder ist fast immer falsch?“
„Das habe ich gesagt?“
„O ja!“
„Dann widerspreche ich mir. Ich möchte überhaupt festhalten, daß ich mir seit einiger Zeit ständig widerspreche. Ich verneine alles. Auch, daß ich alles verneine.“
„Aljoscha?“
„Ja?“
„Kannst du mir noch versprechen, daß es nichts und niemanden gibt, dem du unsere Liebe opferst?“
Aljoscha dachte gar nicht wirklich über diese Frage nach. Er wurde nur unendlich traurig, von einer Sekunde auf die
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