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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Form der Liebe. Man wählt eine Form, wie man eine Waffe wählt. Es gibt eine Form der Liebe, die jenseits von Gut und Böse liegt, und was sie verbrecherisch macht, ist ihre Ausschließlichkeit. Solcherart Liebende sind Abtrünnige, Renegaten, ihre Liebe ist ein Schisma. Eine einzige Gewißheit, dann sind sie unverwundbar. Für Aljoscha war diese Form der Liebe damals Fabel; das war, was ihn zerriß. Für Pjotr war sie greifbar; das war, was ihn zerriß.
    Und dies war, was beide voneinander wußten, als Marja sie an die Straße brachte, die nach Süden führte.
    Ein Spanier nahm sie mit in seinem winzigen Automobil. Man verständigte sich radebrechend und vermittels Zeichensprache, was nicht hinderte, daß man gemeinsam Breitengrad für Breitengrad passierte ohne einen Halt. Der stoische Iberer fuhr dahin mit ihnen, ohne einen Schimmer, was das Reiseziel seiner Passagiere betraf. Tatsächlich hatten sie gar keines. Hatte er geglaubt, sie würden nach einigen Kilometern wieder aussteigen? Niemand würde es je erfahren. Es wurde sinnlos, darüber nachzudenken. Die Sardinenbüchse rollte, weil sie rollte.
    Als sie dem Mann die Hand zum Abschied gaben, standen sie auf den antiken Steinen der Stadt Nimes. Beim Tempel der Diana mutmaßte Pjotr, an Polyphrenie zu leiden, einer sehr unpraktischen Form multipler Zerrissenheit. Am späten Abend sprangen sie vom Lastwagen eines Algeriers herab in den Hexenkessel von Marseille. Überwältigt auf der Stelle.
    Die Stadt war wie ein Lichtbad. Kinder spielten im warmen gelben Licht der Straßenlaternen. Menschen und Autos veranstalteten einen glitzernden nächtlichen Karneval – aufgeregte Gespräche, Frauenlachen, der verrückte Araber Abdul Alhazred, Hupkonzerte, Linienbusse schnauften unbeirrbar durch das Chaos, in einem dunklen Hauseingang wurden finstere Pläne wach, in einem anderen Hauseingang stand die dritte der Macbeth-Hexen – die hochgekrempelten Ärmel weißer Hemden, der Duft der fettigsüßen Kuchen, die aufpeitschende Musik, die aus den algerischen Läden und Cous-Cous-Restaurants auf die Straßen brandete, eine Kasbah mitten in der Bourgeoisie, ein Basar auf den Boulevards, der Muschelgeruch des Mittelmeeres, und hinter zerbrochenen Fensterläden langweilt sich das schönste Mädchen Massilias, sie haßt diesen Moloch, in dem man schwimmt oder sinkt wie ein Stein – dort, wo die Sonne schuld ist – wo für Rimbaud die fruchtlosen Wüsten grimmiger Wanderschaft zum letzten Traum verblaßten – wo Maria Magdalena einen Herrscher davon abbrachte, vor einem Götzenbild zu beten – die Stadt, die Pjotr und Aljoscha ihre Freundschaft erklärte, als sie um Mitternacht mit Brot und Wein auf dem Trottoir saßen und alles guthießen, was ihnen widerfuhr und Tränen in die Augen trieb, denn es war beim Alten Hafen, dem Vieux Port, daß Aljoscha Pjotr weinen sah, zum ersten Mal, die mediterranen Gedanken im argonautischen Kopf des Konstatierers der Polyphrenie färbten sich apokalyptisch orange, und Pjotr sagte: „Es wäre gut zu wissen, daß alles in Ordnung ist, einzig deshalb, weil ich ich bin“, und Aljoscha sagte: „Warum sonst“, und Arm in Arm gingen sie vorbei an den stechenden Augen der Riesenkrebse in den Auslagender Fischhändler, 3 Treffer gewinnen das Goldene Vlies, alles vliest im Haupt des Widders, o range of possibilities, o Reichweite des begrenzten Universums, und es war diese Reise nach Marseille, die für Pjotr und Aljoscha immer weiterging, auf andere Weise, sinnbildlich, seit sieben Jahren nun. Was bedeutet die Sieben? Sieben Plagen, sieben Siegel, sieben Häute hat die Zwiebel.

5
    Blaues Sommerlicht fiel auf den Fels, von dem es hieß, er würde niemals bröckeln. Das Leben ging gewohnten Gang. Aljoscha zwang sich dazu, an seiner Semesterarbeit zu schreiben, und für diese Fron standen ihm lange Zeiteinheiten zur Verfügung, denn Leda machte sich rar. Notgedrungen, gewiß; es gab nichts zu rütteln an den Prioritäten, und die Welt hielt stets einen Tag X bereit, an dem getan sein mußte, was zu tun war.
    Leda Geltzer näherte sich dem Ende ihrer Ausbildung zur Textilrestauratorin in einem Museum von Reputation; ihre erste Prüfung bestand darin, eine alte, im Zerfall befindliche Kissenplatte wiederherzustellen. Das kostbare Gewebe, auf das müde Regentenhäupter gefallen sein mochten und an dem Leda jetzt ihre Fertigkeiten beweisen sollte, zeigte Orpheus, den mythischen Sänger, der sich so gut auskannte mit der Hochzeit von Gefühl und Klang

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