Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
Vom Netzwerk:
hatte sich in ihr Gehäuse verkrochen. Sogar den Schnecken wird schlecht, dachte er, und legte sie behutsam in das nasse Gras. Sein Kopf tat weh von an den Kopf geworfenen Sätzen, Sätze, bei denen er sich noch im nassen Grab umgedreht hätte. Nun ging er eben zurück. Leda würde wohl schon schlafen jetzt.
    Aljoscha lag in der Dunkelheit wie ein vergessener Pharao. Seine Nacht war in Vergangenheit geglitten, versehentlich. Wie lange war das her? Ist das wichtig? War das wichtig, wenn etwas an der Vergangenheit immerGegenwart bleibt? Wehmut schlang die Arme um ihn, und sie flüsterte: „Weißt du nicht mehr, was du dachtest, in dieser Stadt in England, vor diesem Straßenschild, auf dem stand Endless Street ?“ Doch, ich weiß es noch. Jetzt aber kommt es mir so vor, als warte ich nur noch auf die Kurve, die nicht mehr gekratzt wird. Wehmut ist, für alle, die sie nicht kennen, wie eine Silberschlange, und sie wisperte: „Wach auf, wach auf…“, und Aljoscha fiel in Schlaf.
    Aljoscha wachte auf, weil Pjotr ihn rüttelte, bereit zum Aufbruch: „He!“
    Aljoscha blinzelte. „Was? Wo waren wir stehengeblieben?“
    „Ich wollte dir noch sagen, Aljoscha – deine Sphinx…“
    „Was ist mit ihr?“
    „Sie hat die Augen der Wahrhaftigkeit!“
    Pjotr umarmte seinen Bruder und ging mit Raketenschuhen, um Fräulein Alexandra nach Neuer Welt zu fragen.

4
    Bald darauf – es war der Tag, an dem Leda von Maria Magdalena sagte: „Sie sieht aus, als wäre sie aus Stein“ – kam neue Nachricht aus B***. Fräulein Alexandra war nach London abgereist, ohne Pjotr in den Stand einer Gewißheit zu setzen. Es hieß also warten, lange warten und darüber rätseln, ob in der vierdimensionalen Raumzeit auch ein Nichtereignis ein Ereignis ist. Unterdessen nahm der Kopf der Sphinx unter Pjotrs formenden Händen mehr und mehr die Gesichtszüge der so schonungslos Unklarheit Hinterlassenden an, und beim Modellieren, erzählte Pjotr, würde er eines von Aljoschas Gedichten auswendig lernen. Es hieß Marseille und handelte davon, daß eine Stadt aus ihren Begebenheiten besteht.
    Ihre gemeinsame Reise nach Marseille war sieben Jahre her. Was bedeutet die Sieben? Sieben Schleier fallen vom Geheimnis. Sieben Obsessionen nehmen Maria Magdalena in Besitz. Sieben schwarze Jahre folgen sieben weißen Jahren, wenn Lieben heißt, alles in Schwarzweiß sehen.
    Damals waren Pjotr und Aljoscha zunächst nach B*** gereist; das Poluninsche Haus lag nicht weit von B*** entfernt, und auf MarjasEinladung hin verbrachten sie dort ein paar Tage. Marja und Pjotr waren sich zu diesem Zeitpunkt bereits näher gekommen, indes war es noch nicht zu einer Aussprache, geschweige denn zu einem Arrangement mit Polunin gekommen, und die Tage verliefen in angespannter Stimmung. Die Konvention stand aufrecht wie Potemkinsche Dörfer, und dahinter ahnte Aljoscha das sinkende und zugleich Verständnis für Marja suchende Herz Polunins ebenso wie Pjotrs mit jeder Minute schlimmer werdende Zerrissenheit und Marjas Wille zum Kopfsprung in das Ungewisse. Möglichst lautlos bewegte sich Aljoscha durch die Atmosphäre dieser Stunden; es war sein Kismet, von Ereignissen immer wieder ausgespuckt zu werden in einen Raum am Rand der Zeit, wo selbst das Lächeln der Vergeblichkeit vergeblich ist, denn es ist einfach niemand da. Nur Echos, Schatten und Geschichten, die beginnen mit: „Eines Abends unter grünen Blättern sah ich ein Mädchen so schön“ und in denen alles endet in hyperplatonischen Idyllen, mit einer Tasche voller Sterne und mit Regenfall im Innern. In diesen Stunden, wo Aljoscha lachte über sich und seine Welt, stand sie klar vor Augen, die ewige Vergeblichkeit: vergeblich sein Versuch, von Leda fortzukommen, vergeblich sein Versuch, zu ihr zu kommen. Das Lächeln der Vergeblichkeit, in die Mundwinkel geschnitten wie mit einer Sense. Mit diesem Lächeln verstand er damals jenes Paradox, daß er Glück eigentlich nur in Ledas Gegenwart fühlte, jedoch über das grundsätzliche Unglück seines Glücks nachdachte, sobald sie aus der Tür war.
    Allein mit sich am Rand der Dinge verstand Aljoscha, was Pjotr so zerriß. Und er wußte, die bedingungslose Liebe zerschmettert alles andere, wie der Stein in Nebukadnezars Traum. Es gibt andere Formen der Liebe, aber die bedingungslose Liebe fordert zwei Deserteure und die Mentalität eines Gangsterpaares auf der Flucht. Pjotr rang nicht mit moralischen Imperativen. Worum er rang, das war die Entscheidung für eine

Weitere Kostenlose Bücher