Aljoscha der Idiot
Urlaubsphotos, einem skandalösen Liebesbrief oder dem Striptease einer Horde Heinzelmännchen angemessen war. Das mußte man tolerieren, aber nicht direkt neben sich. Aljoscha wanderte weiter, kam zu einer Absperrung seitlich der Bühne, und fand, daß dieser lumpenproletarische Standpunkt Sicht genug bot. Auf den Tribünenplätzen ging es pomphaft und bourgeois zu, während der Plebs den Platz als das betrachtete, was er vor Erfindung der Bannmeile zu sein pflegte: als den seinen.
Aljoscha sah, was man von der Tribüne aus nicht sah: Tänzerinnen und Tänzer, die hinter der Bühne, im Dunkel vor dem kolossalen Rathaus, Drehungen und Sprünge probten, Bruchstücke des bevorstehenden Balletts, und die Bewegungen, die jeder Akteur dort ganz für sich ein letztes Mal probte, waren wie eine exklusive Ouvertüre. Aus tiefer Konzentration brachen plötzlich Tanzfiguren hervor; ebenso abrupt brach die Bewegung wieder ab. Vor dem gewaltigen, sinistren Bauwerk wirkten die fragilen Tänzerinnen wie bleiche Priesterinnen am Tor zu einer anderen Welt; die Tänzer erschienen wie Boten vor dem Turm von Babel. Ihre blitzartigen und doch geschmeidigen Tanzbewegungen vor der eigentlichen Aufführung glichen den Signalen einer geheimen, rituellen Kommunikation, deren wortlose Intensität Gewaltiges ankündigte. Babylon wird fallen, beispielsweise. Mochte das Übermächtige mit seinen Schatten drohen, Babylon wird fallen. Zen-Meister Huang-Po hätte gesagt: Der Geist der Bewegung besiegt das Steingewordene und Starre. Oder: Ewiger Übergang gerinnt nicht. Vielleicht hätte er auch gesagt: Iß niemals Steckrüben.
Während Aljoscha noch gebannt zusah, kämpfte sich zu seiner Linken ein beherztes Mütterchen bis zur Absperrung durch; nachdem sie ein wenig Luft geschöpft hatte, stieß sie Aljoscha mit dem Ellenbogen an: „Hier sparen wir 30 Rubel!“
Aljoscha sagte: „30 Rubel? Donnerwetter.“
„Nicht wahr? Jedenfalls, hier haben wir ein schönes Plätzchen gefunden“, freute sich die alte Frau im Plural, als wäre sie mit Aljoscha zusammen aufgebrochen, um dem spektakulären Ereignis beizuwohnen.
„Soll ich Ihnen etwas sagen“, fuhr sie fort, „ich weiß gar nicht, was gespielt wird. Ich war nur auf dem Przewalski-Prospekt und habe Rollschuhe für meine Enkelin gekauft, bei Kastschej, da“, – sie raschelte mit ihrer Einkaufstüte – „und dann sah ich die Versammlung hier. Früher war ich oft im Theater! Ich hab noch den großen Grindko gesehen! Der hat sich ja nachher dann umgebracht. Die Größe, Gott, was hab ich mich da zermartert!“ – Aljoscha nahm an, daß diese letzte Bemerkung den Füßen der Enkelin galt und nicht dem großen Grindko, und setzte zu der Frage an, wie alt das Kind denn sei, aber das Mütterchen war soeben untergetaucht, um stöhnend und umständlich ihr Gepäck auf den Steinplatten zu deponieren. Wieder lotrecht fragte sie: „Aber welches Stück wird denn nun aufgeführt?“
„Ballett. Zu Musik von Gustav Mahler.“
„Ach, ein Ballett.“ Das schien nicht nach ihrem Geschmack. Aljoscha rechnete damit, daß sie unter beträchtlichem Aufwand Sack und Pack wieder emporhieven würde, doch sie beschloß: „Na, besser als ein Kurkonzert. Haben Sie schon einmal ein Kurkonzert erlebt, junger Mann?“
„Nein, bislang nicht.“
„Es macht Kranke gesund und Gesunde krank. Um 22 Uhr 30 muß ich gehen, sonst versäume ich meine Metro. Würden Sie mich zur rechten Zeit auf den Weg schicken?“
„Leider besitze ich keine Uhr“, sagte Aljoscha.
„Am Rathausturm ist eine Uhr“, sagte das Mädchen zu seiner Rechten.
„Ach? Na ja! Dann geht es. Gehören Sie wohl zusammen, Sie beide?“
Aljoscha und das Mädchen wechselten einen Blick. Sie war meerjungfräulich schön und trug so gewiß einen nordischen Namen, wie sie ihr Haar in Salzwasser wusch. „Nein, wir gehören nicht zusammen“, bekundete Aljoscha.
„Nicht? Na, was nicht ist, wird noch“, bestimmte das Mütterchen mit resoluter Fröhlichkeit. Die Meerjungfrau lächelte vielsagend und viel verschweigend, und dann setzte die Musik ein.
Das Haupt-Gebäude, die Baukunst des Bewußtseins, muß von unermeßlicher Größe sein. Betreten wir also die Korridore und Gemächer der entlegeneren Flügel. Kein Zaudern, keine Glaubensfragen. Es gibtFalltüren und Schlangengruben, wir wissen das, wir wissen das. Was nicht ist, wird noch? Daß etwas war, wird sein. Etwas wird am Ende dieses Weges liegen. Vergessene Geschöpfe mit Augen, die vor
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