Aljoscha der Idiot
diese Augen? Und Aljoscha sagte: ja. Und Wehmut fragte: kehrt sich darum deine Seele ab von allem, was vor deinen Augen ist und nicht Ledas Namen trägt? Und Aljoscha sagte: nein. Und Wehmut fragte: wie also? Und Aljoscha sprach: alles, was vor meinen Augen ist und nicht Ledas Namen trägt, ist wie ein Bild. Und Wehmut fragte: wie ein Bild nur? Und Aljoscha sprach: wie ein Bild nur und sonst nichts. Und Wehmut fragte: von welcher Art ist dieser Makel deiner Augen? Und Aljoscha sprach: daß sie blutleer saugen, das ist der Makel meiner Augen. Und Wehmut fragte: nur in Leda läßt du Blut? Und Aljoscha sagte: ja. Und Wehmut fragte: und bist du Ledas Blut? Und Aljoscha sagte: ich verstehe deine Frage nicht. Und Wehmut fragte: bist du verloren, wenn sie dich verliert? Und Aljoscha sagte: weiß ich denn, was Unbehextseinwollende beschreien?
In Aljoschas kleinem Zimmer fiel Pjotrs Blick auf ein dubioses Arrangement aus geschundenen Pinseln und leeren, verzweifelt sich windenden Ölfarbtuben; andere Tuben wurden von eintrocknenden Farbresten plombiert; auf einer billigen Blechpalette ließen bereits verkrustete Farbschichten auf planlose Exkursionen ins Polychrome schließen, mehrere Pinsel dümpelten ermattet in einem Glas mit trüber Brühe, und das Zentrum dieses hülfesuchenden Durcheinanders bildete ein Stück Kaufhaus-Leinwand, ein besserer Pappdeckel, auf dem Aljoscha sich mit dem genotzüchtigt wirkenden Instrumentarium erprobt hatte. Während Aljoscha im Zimmer ein wenig aufräumte, trat Pjotr an das Corpus delicti heran und unterzog es näherer Prüfung.
„Welch eine Sphinx!“
„Wer? Ach, sie…“, sagte Aljoscha um eine Spur zu unbeteiligt, wie jeder Ertappte, der vorgibt, nicht zu wissen, wovon die Rede ist.
„Wer ist das?“
„Wer weiß.“
„Diese Dame hat dich in Fesseln geschlagen, das sieht man… erstaunlich, was du da treibst. Ist das eine Allegorie?“
„Ich weiß nicht… ich versuche wohl, etwas einzufangen, dem ich nicht gerecht werden kann.“
„Aber man könnte schwören, daß du nah dran bist.“
„Nein, ich bin nicht im mindesten nah dran, im Gegenteil.“
„Aber du betest sie doch geradezu an!“
„Wirklich, sie ist – kein Grund zur Aufregung. Ich meine, ich verfüge einfach über keine Technik.“
„Das ist doch vollkommen belanglos hier. Diese Frau schreitet aus durch eisbedecktes Land. Ihr Antlitz ist das Bild vollkommener Beherrschung, und du denkst, Liebe kann sie nicht verwunden. Vielleicht denkst du, sie nimmt sich anonym, was einer Herrscherin gebührt, und lächelt arktisch, wenn sie wieder geht.“
„Pjotr, du bist nicht ganz bei Trost.“
„Wann hast du angefangen damit?“
„Vor drei Monaten. Ich hatte das Bild einer Schauspielerin als Vorlage, aber davon hat sie sich schon weit entfernt, inzwischen.“
„Das ist nur logisch“, meinte Pjotr. „Portraits fordern ihr Eigenleben. Nachahmung, Kopie, das sind sowieso nur Ideen. Es gibt keine Nachahmung. Es gibt gar keine Wirklichkeit, es gibt nur Sicht auf Wirklichkeit. Was also sollte man kopieren? Jedes wahrnehmende Bewußtsein ist wie ein Abflußloch im Objektiven. Es gibt nicht einmal Farbe, es gibt nur Farbempfindung. Was würde wohl van Gogh dazu sagen? Na, van Gogh hätte sicher kein Ohr dafür. Jedenfalls, du kennst den Satz: ‚Der diese Frau gemalt, hat sie geliebt‘? Seit drei Monaten, sagst du – hat sie einen Namen?“
„Maria Magdalena.“
„Ah? Naja, zumal, wenn man hier sieht, wie sich Offenbarung und Geheimnis abwechseln – oder quasi auch identisch sind.“ Pjotr zeigte auf das Bein, das aus dem – maltechnisch hemmungslos mißlungenen – Faltenwurf eines schweren Umhangs zum Vorschein kam, da Maria Magdalena sichtlich im Begriff stand, den Schauplatz dieses ganzen Unsinns zu verlassen. Haut so hell wie Alabaster, doch ihr Bein glänzte wie Anthrazit – aus einem hauchzarten Grund.
„Was ich fragen wollte“, kam Pjotr auf diesen Grund zu sprechen, „kommen in der Bibel eigentlich Nylonstrümpfe vor?“
„Nein, das Buch bricht vorher ab.“
„Naja. Wenn die Zeichen der Zeit es erfordern, trägt Maria Magdalena Nylonstrümpfe.“
„Ehrlich gesagt, der Name bedeutet gar nichts“, sagte Aljoscha. „Ich hätte sie auch Lilith oder Leila nennen können. Der Name war einfach plötzlich da.“
Die Nacht bewegte sich voran, glitt schwarz ins Blaue. Pjotr zeigte Aljoscha ein Bündel zusammengehefteter Papiere, auf denen er in den letzten Wochen sozusagen sitzend, liegend,
Weitere Kostenlose Bücher