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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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das Riechsalz sein, sondern das, wonach man Riechsalz braucht.
    Einmal, als Ledas Werdegang bedenklich in der Schwebe lag, und wenig setzte ihr so zu wie Dinge in der Schwebe, hatte er beschlossen, Wehrdienst in ihrer Reizbarkeit zu leisten, indem er erstens bewegliche Anpassung an jede noch so feindliche Lage übte, zweitens seine eigenen Widerstandsnester ausräucherte und sich drittens Rückzug in die Mäßigung befahl. Zu Ledas beruflichem Fortkommen konnte er wohl eine Meinung haben, aber nicht viel mehr, und das ließ sie ihn auch wissen. Er selbst hatte keinen Zweifel daran, daß sie genau dort unterkommen würde, wo man sich an ihre im hohen Mittelalter erworbenen Kenntnisse erinnerte. Seine Strategie, der Karambolage mit Ledas Verdruß zu entgehen, ging zunächst auf; darum vergaß er leider irgendwann, den Stahlhelm aufzusetzen, und an den Kopf geworfene Dinge bewirken manchmal, daß Menschen bei Nacht und Regen in das Wasser eines Flusses starren. Schlimmer noch: Ungesagtes, Ungetanes, Ungeteiltes und am Ende sogar Ungedachtes war wie eine Flut in ihm gestiegen, eine Flut indes, die derart weit vom Deich entfernt blieb, daß eigentlich ein Deich nicht mehr vonnöten war.
    Aber jene Zeit lag hinter ihnen; Leda hatte ihren Platz gefunden und in Orpheus einen ständigen Begleiter, das Leben ging gewohnten Gang, die Prioritäten diktierten ihre Grammatik der gähnenden Vernunft, und irgendwo schien eine unsichtbare Sonne. Aljoscha lag in den Umständenwie Füchslein und Löwe im Gras. Das heißt, im Augenblick lag er mit dem Kopf auf den Papieren seiner Semesterarbeit. Im Augenblick hatte er einen Kopf, der sich anfühlte, als ob jemand mit einem Skalpell nicht ganz klarkam. Dumme Gedanken holen wir da raus, da öffnen wir nur kurz die Schädeldecke, winziger Schnitt, merken Sie gar nicht. Es war der 15. August.
    Er hatte einmal einen Höllenhund gekauft, ganz legal, bei einem der Bouquinisten an der Seine, die von der ganzen Teufelsbrut, die von der Kathedrale Notre-Dame herabgrinst auf Paris, kleine Imitate feilbieten. Am 15. August um kurz nach 18 Uhr befand sich die grotesk anmutende Skulptur etwa 30 Zentimeter weit entfernt von jener Blüte, die vom Grabmal der Kameliendame stammte. Im etwa gleichen Abstand zu den zwei Objekten lag ein Buch – Die Sturmhöhe von Emily Brontë. Drei Dinge, die ganz zufällig in gerade diese Anordnung gekommen waren. Und plötzlich fiel Aljoscha auf, daß von keinem der drei Gegenstände irgendeine Spur zu Leda führte. Und wenn er eins geschworen hätte zwischen all den Dingen hier, dann dies, daß sie alle mit Leda zu tun hatten, Leda beschworen, an Leda erinnerten, daß sie alle irgendwie mit Leda aufgeladen waren und sein ganzes Hab und Gut im Grunde nur Beweismaterial war. Aber hier war nichts dergleichen. Diese ominöse Triade schuf sozusagen ein Vakuum in seinem Zimmer, und Aljoscha betrachtete das Phänomen mit widerstrebendem Interesse, wie einen Käfer oder eine Spinne an der Wand. Schließlich stand er auf und sagte: „Orphische Mysterien, was?“
    Es war nämlich Orpheus, der ihm eine Erkenntnis beschert hatte, an der das Verblüffendste war, daß sie sich erst jetzt einstellte: Leda hatte ihre eigene Welt. Ein lachhaft simples Faktum. Nur, daß Aljoscha ewig und drei Tage gebraucht hatte, um dahinterzukommen. Er hatte immer geglaubt, die Erde sei flach. Hahaha! So was Dummes. Leda hatte ihre eigene Welt, in der er gar nicht vorkam, und das war eine ganz normale Sache.
    „Hm. Sehen wir uns das noch einmal an. Was stimmt daran nicht?“
    „Ich weiß! Es gibt nur eine Welt, in der sich alles befindet, der Fujiyama wie das Eichhörnchen! Ich sage das, weil – “
    „Weil du eine Gurke bist! Das Eichhörnchen kann den Fujiyama erklimmen, aber der Fujiyama nicht das Eichhörnchen! Setz’ dich sieben Jahre unter diesen Kirschbaum da und denke darüber nach!“
    „O je, Meister!“
    „Wird’s bald!“
    Und jetzt hatte Aljoscha in seinem Universum ein Schwarzes Loch entdeckt, das Ledas Existenz und Bedeutung verschluckte. Hatte er eine eigene Welt? Vielleicht là-bas. Tief unten. „Wir werden sehen“, dachte Aljoscha, griff nach seiner Jacke und machte sich auf in die Stadt.
    Der Rathausplatz rumorte wie ein antikes Amphitheater. Publikum brodelte erwartungsfroh der Abenddämmerung und dem Beginn der Aufführung entgegen. Aljoscha stand neben einem jungen Paar, dessen aufgeregtes Getue den Börsenkursen in der Zeitung galt, obwohl es eher blöden

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