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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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und mit seiner Kunst sogar die wilden Tiere zu bezaubern wußte.
    Orpheus nahm Leda ganz und gar in Anspruch, und Aljoscha hatte aufgegeben, sich über die Nebenwirkungen zu beklagen. Lieber schickte und fügte er sich; es war ratsamer, sich friedlich neben die betörten wilden Tiere zu legen, wie Füchslein und Löwe gesunden Common sense zu zeigen und etwas töricht zu lächeln. Kein Wesen hier, das zu verstehen gab: du mußt dein Leben ändern, Orpheus. Alle klugen Kreaturen freuten sich darüber, daß für Leda ihre Arbeit vielleicht nicht das Wichtigste im Leben war, wohl aber der Sockel, auf dem sie in möglichst unangefochtener Balance stehen mußte, um auch erkennen zu können, daß der Sockel nur ein Sockel war.
    Im hohen Mittelalter hätte Leda an Tapisserien gearbeitet, von früh bis spät und dann von spät bis früh die Fehler anderer Stickerinnenausbessernd. Ihr Pflichtbewußtsein war aus Erz und Stahl gemacht, wenn auch stets durchsetzt mit einer Spur von Kummer, und manchmal litt sie arg am eigenen Ethos. Wenn sie sich einer Sache widmete, dann mit einzigartiger Hingabe, aber ihr Wille, sich zu widmen, mußte sich stets dagegen wehren, ausgenutzt zu werden; ebenso haßte sie es, sich gleichzeitig verschiedenen Dingen widmen zu müssen. Nicht, daß die Dinge deshalb ihr Unternehmen abgeblasen hätten, Leda das Gefühl zu geben, in einem ständigen Belagerungszustand zu leben.
    Diese Belastung wog um so schwerer, als Leda ihren Eindrücken oft zweimal ausgeliefert war, einmal in der Realität und dann kaum weniger intensiv nochmals im Geiste, wo sie durch das unabänderlich Gewordene ging, um es an seinen nicht mehr zur Verfügung stehenden Varianten zu messen. Jeder neue Morgen fand sie noch halb im Gestern, jeder Tag stieß an ein geschlossenes Visier, hinter dem ein zweifelnder Blick nach innen sah.
    Dann aber wurde das Visier geöffnet. Dann war da dieses Lächeln: nicht blendend wie eine Sonne, die keinen Schatten mehr wirft, sondern milde Septembersonne, die einen Herbstwald vergoldet. In diesem Lächeln war immer eine Art von überraschter Rückkehr in das, was so war, wie es war. All ihre Freundinnen nannten sie Prinzessin, und all ihre Freundinnen hatten Leda zu Konzessionen an das Irdische verführt.
    Leda machte Abendessen zu Stilleben an Earl-Grey-Sonntagen, und wenn man sie nach der höchsten Zahl fragte, die sie kannte, sagte sie: „Einstein.“ Sie sah gern die kleinen Lämmer gähnen auf dem Deich, wo sie mit Aljoscha oft spazierenging. Sie hielt Aljoscha für ein wenig weltfremd, und Aljoscha hielt die Welt für weltfremd. Sie konnte erschreckend sein, wenn sie widersprach, und sie konnte erschrecken vor Rechtgeben. Einmal hielt sie Aljoscha vor: „Immer, wenn du von einer Frau sagst, sie sei schön, sieht sie ganz anders aus als ich!“ Und er sagte, daß er sich nie mit einer anderen Frau die langen Wimpern ihrer Tochter vorstellen wird.
    Nadelstiche, die Vergangenheit zusammennähen: dazu war Leda wohl berufen. Doch sie traute diesem Frieden noch nicht recht, traute keinem Frieden so wie andere, wenn sie ihn denn finden; sie fühlte sich nicht nur durch Prüfungen geprüft, nicht nur durch Orpheus, das ganze Leben war ihr ein Textil, an dem es viel und oft zu viel auszubessern gab. Zu ihren schwersten Lasten zählte es, daß alle glaubten, sie trage Lasten leichter als die anderen. Das Gefühl, ihr eine Last zu sein, wareine Altlast für Aljoscha. „Ich würde all das niemals durchstehen ohne dich“, das sagte sie ihm manchmal; den Verdacht, den er zuweilen hegte, nämlich daß sie all das besser durchstehen würde ohne ihn, forderte ein solches Gelöbnis zwar tapfer zum Duell, doch die beiden Kontrahenten erschossen sich nur immer gegenseitig.
    Wenn Leda bekräftigte, daß nur er der Drachentöter war, daß nur er die Waffe gegen ihre Sorgen hatte, war er nie ganz sicher, gegen was er eigentlich kämpfte, und seine Erfahrung darin, Ledas Kummer zu verursachen, gab ihm das Gefühl, daß er mit verrutschtem Heiligenschein gegen die Drachen antrat. Und im Heim für Drachentöter wartete ein kleiner weißer Wurm auf ihn, der boshaft fragte, warum er nur der Sorgendrachentöter war, hoho, ho. Was für ein Märchen das denn sei, wenn die Jungfrau unmittelbar nach ihrer geglückten Befreiung auf die Armbanduhr blickt. Wenn seine Liebe stark genug war, um Leda wiederherzustellen für einen neuen Tag, dann war sie zu schwach. Sie sollte Leda ohnmächtig hinsinken lassen. Sie sollte nicht

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