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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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stehend und gehend seine Skizzen und Gedankengänge festgehalten hatte: Entwürfe für eine Abfassung, die jenes Abschlußwerk für die Akademie ergänzen sollte, an dem Pjotr seit Beginn des Sommers arbeitete. Das eigentliche Werk war ein Zyklus von sieben aus Ton geformten Köpfen, deren endgültige Gestalt in sehr absehbarer Zeit im Brennofen zu härten war. Sieben Statthalter für sieben Dimensionen eines Daseins, sieben Stationen einer Entwicklung, von der Aljoscha den unbestimmten Eindruck hatte, daß sie sich anbahnte, während Pjotr sie beschrieb; daß an einem bestimmten Punkt des Zyklus Vergangenheit in Gegenwart umschlug und an einem bestimmten anderen Punkt die Gegenwart zu einer angestrebten Zukunft wurde. Es war, als ob Pjotr diese Köpfe, diese sieben Haupt-Gebäude, mit Kraft aufladen wollte; eine Kraft, die es bewirken würde, daß die beschriebene Entwicklung sich vollzog, weil er sie beschrieb. Sieben persönliche Archetypen, miteinander verbunden wie die Sephiroth am Lebensbaum der Kabbala und mit reicher Symbolik ausgestattet. Sieben Wesen, sieben Weisen, sieben Namen, und einer davon war Sphinx.
    Dieses erstaunliche Septett hatte in den letzten 48 Stunden Pjotrs Rauschzustand mit allen Äußerungen einer das Übermaß erreichenden Sehnsucht heftig zu spüren bekommen, und Pjotr schloß angesichts seiner geistigen Verfassung nicht aus, daß Fräulein Alexandra, wenn er, zermürbt vom Regieren des Konjunktivs, händeringend vor ihr stünde und ein klares Wort erbäte, was dringend noch vor ihrer Abreise geschehen mußte, Anlaß haben könnte zu der Feststellung: „Vielleicht lieben Sie mich, aber Ihre Hände sind ganz und gar mit Ton verschmiert.“
    Die Nacht bewegte sich voran und glitt in brenzlige Zukunft – für Pjotr, den antiopegeküßten, dämonenvergessenen, der es sich mit einer Wolldecke auf dem harten Fußboden unbequem machte, was ihm gleichviel war wie völlig pimpe; Himmelbett und Wanne voll Reißzwecken waren für ihn zur Zeit dasselbe.
    „Mein Schlaf wird gottverdammt exzentrisch, wenn ich überhaupt ein Auge zukriege“, erklärte er. „Jesus, werde ich morgen früh erschlagen sein.“
    „Kann gut sein“, sagte Aljoscha. „Meine Bücher kämpfen einen mir unbegreiflichen Kampf gegen die Regale.“
    „Oh. Gut. Mögen ein paar gute Gedanken auf mich herabfallen.“
    Aljoscha lag in der Dunkelheit wie ein vergessener Pharao. Er sah die Zukunft, in die seine Nacht glitt. Vielleicht sollte man sich aussprechen, dachte er. Vielleicht. Wenn ich weiß, was zu sagen ist.
    Er war niemandem begegnet bei dem Unwetter in stockdunkler Nacht. Er hatte sich am Elbina-Fluß herumgetrieben, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Dann kam er zu den Häusern zurück, weil man Angst hat vor der Größe des eigenen Charakters. Und weil es immer, wenn man denkt, es geht nicht weiter, schon weitergegangen ist. Er sah in ein erleuchtetes Fenster. Drinnen lag ein Mann auf einem Sofa, trank sein Bier und glotzte ins Leere. Und das würde er noch ewig tun. Er sah aus wie eine Wachsfigur, die vor Realismus atmete. Das Sofa sah aus, als hätte es eine Menge Dyspepsien erlebt. Es sah aus, als würde der Mann jede Nacht darauf einschlafen, bevor die letzte Dose leer war. „Du bist ein toter Mann“, hatte Aljoscha leise vor dem Fenster gesagt, aber als er weiterging, stellte er fest, daß er den glotzenden Mann um sein Totsein beneidete. Sein absurder Kopf, aus dem wahrscheinlich schon die Drähte ragten, erklärte ihm, was jetzt das Beste war: einer dieser abgerissenen Streuner werden, die mit aufgerissenen Augen durch die Einkaufszentren schlurfen und Reden halten wider Julius Cäsar. Sein Blick streifte einen anderen Blick, und er blieb stehen. Das Bild einer Frau in einem Schaufenster. Eine Frau auf einem Plakat. Er sah das Bild an, bis der Blick der Frau besorgt schien, beinahe ängstlich. Rotz und Wasser, alles im Regen, alles im Regen. „Keine Angst“, sagte er. Er würde nicht zurück zum Wasser gehen, er würde nicht noch einmal lange in das Wasser schauen. Auf dem Bild wich die Befürchtung einem Lächeln, das zu sagen schien: geh in einer Lüge leben und wisse, es gibt einen Ort. Er ging weiter und fragte sich, wann er zum letzten Mal ein Antlitz erforscht hatte, bis er darauf ein Lächeln sah. Er trat einen Stein aus dem Weg und bemerkte dann, daß es gar kein Stein war. Es war eine Schnecke, die er gerade einige Meilen durch ihr Schneckenuniversum befördert hatte. Er hob sie auf; sie

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