Aljoscha der Idiot
gefunden.
Vielleicht, dachte Aljoscha, geschieht eine Verwandlung. Vielleicht konnte die Italienreise diese mysteriösen, Ledas Bedeutung verschluckenden Felder vergessen machen, die neuerdings in seiner Wahrnehmung auftauchten. Vielleicht würde diese Reise Ledas Welt und seine Welt wieder verschmelzen, vielleicht machte sie den Ausnahmezustand zum Normalzustand, vielleicht ersetzte sie Sättigungsgrade durch Unersättlichkeit. Aljoscha hoffte es. Er hoffte es. Leda erwachte aus ihrem Schlummer und seufzte: „Ach… ich habe so schön geträumt…“
„Ich auch“, sagte Aljoscha.
Am 26. August bestiegen sie den Nachtzug nach Florenz.
6
Ein gefallener Engel schwebt über der Stadt, rückwärts in der Zeit. In der Kapelle des Palazzo Medici zieht die Dreikönigskarawane von Wand zu Wand, die Fahrt der Magier, gemalt von Gozzoli, der im Gefolge mitzieht. Der Name des Jungen auf dem weißen Pferd ist Lorenzo. Unschuldige knabenhafte Schönheit. Sein angedeutetes Lächeln jedoch ist wissend wie das eines jungen Mädchens. Bedauernd. Voller Unausweichlichkeit. Schellenklang und Drommeten begleiten den Zug, zu Ehren dieses Jünglings, der auf dem Schimmel sitzt, als würde er die Schicksalsgöttin treffen, oben auf dem Hügel.
„Bedenke, du bist nur ein Mensch“, scheint einige Jahre später der Philosoph Pico della Mirandola seinem Freund Lorenzo zuzuflüstern, während der Dichter Poliziano sich zu Lorenzo umdreht und dabei auf die Könige deutet, die das Jesuskind anbeten. Es ist der Augenblick, in dem Lorenzo seiner eigenen Geburt als il Magnifico beiwohnt, und Lorenzos Blick folgt Polizianos Geste mit unverhüllter Arroganz. Der Stolz sprengt fast die Haltung des eleganten jungen Mannes, große Zukunft bricht aus jeder Zelle seines Körpers.
Schon beginnt Lorenzo, Sonette zu schreiben, doch tiefer Ernst verdunkelt bald sein Antlitz, färbt es düster wie den Palazzo Vecchio, dessen Räume die Last schwerer Entscheidungen drückt. Auf den Stufen, die zum Liliensaal führen, ist Lorenzo, der in Schwarz und Gold sich Kleidende, ein einsamer Mann. Er denkt an die schönen Hände der Lucrezia Donati. Er denkt an die Mörderhand, die das Leben seines Bruders auslöschte. Wie schmächtig fühlt sich der Prächtige, und wie allein… Kirchenmänner nennen ihn den Gottlosen, weil er es mit der Philosophie treibt. Savonarola, der fanatische Bußprediger, verbringt seine letzte Nacht im dunklen Bauch dieses Palastes, bevor das Feuer des Scheiterhaufens seine irdische Hülle vernichtet – er vermochte sie nicht aufzuhalten, die Fahrt der Magier, den Gang ins Blendendweiß, ins Licht. Dante Alighieri wandert durch die Gassen. Er hat keine Augen mehr für das Treiben ringsumher. Er ist nur noch halb von dieser Welt. Die Begegnung ist eine Frage der Zeit. Das Echo ist eine Frage des Standpunkts.
Weiter nördlich erprobt Paolo Uccello unverzagt die Möglichkeiten perspektivischer Darstellung. „Weib, was ich gefunden habe!“ ruft er endlich aus. Tausendmal der gleiche Mangel, bis sich das ZeichenblattUccellos plötzlich in die dritte Dimension vertieft. „Welch entzückend’ Ding die Perspektive ist!“ – „Ach, was du immer siehst!“ sagt Uccellos Weib. „Geh lieber Brot kaufen!“ Dante, der gegenläufig wandernde Fremdgänger, sieht die Horizonte sich verfärben. Die Perspektive ist eine Frage der Begegnung zwischen Zeit und Standpunkt.
„Welch entzückend’ Ding die Renaissance ist!“ denkt weiter südlich eine nackte Schöne, die ihr drittes Bad an diesem Tag nimmt. Leise plätschert das Wasser, Nymphen wachen in den Nischen, welch angenehm kühler Ort an einem heißen Renaissancenachmittag, ewig hier verweilen, ach! Lärm aus den Prunkgemächern, als hätte jemand eine Vase umgestoßen, weckt sie aus ihrer süßen Indolenz. Schade, schade, denkt die Schöne.
Der Anblick, der sich Cosimo dem Zweiten bietet, läßt ihn seufzen, ein sehr schwaches Seufzen, kaum vernehmbar. Er hat seinen Platz in der Prinzenkapelle von San Lorenzo, im Hexagon der Sarkophage von sechs Potentaten, noch einmal verlassen, um zu fragen, wie es um die Neugeburt bestellt ist. „Ach, mein Herr“, stöhnt die Schöne, langsam sich erhebend, Wassertropfen perlen über ihren schlanken Körper und erfüllen Cosimo den Zweiten mit Tristesse. „Würdet Ihr mir wohl den gestreiften Schal dort reichen, damit ich ihn wie einen Turban um mein Haar schlingen kann?“
Vier Philosophen im Mars-Saal finden das sehr amüsant. Sie sind um
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