Aljoscha der Idiot
Haltung bemüht, solange man sich ein Bild von ihnen macht, wie alle Philosophen. Nachts aber schleichen sie sich zu den Gestalten Caravaggios, um mit ihnen guten Wein zu bechern, Judith zuzuwinken, die das Haupt des Holophernes durch die Korridore trägt, und einer Raffael-Madonna zuzurufen: „Laß den Jungen bloß nicht fallen!“
Dante überquert den Ponte Vecchio. Es steht geschrieben beim Propheten. SIE wird ihn leiten und heimlich begleiten durch alle neun Sphären. SIE wird ihn emporheben von Himmel zu Himmel allein durch die Kraft IHRES Blickes. Dann wird die geheimnisvoll mächtige Wirkung IHRER Nähe ihn führen. Dann wird SIE verschleiert sein. Dann wird der Liebende SIE dennoch erkennen. Dann wird SIE ihn empfangen im Paradies.
Ein im Frühling Erstgeborener liegt im Grün der Primavera Botticellis der Göttin Flora zu Füßen, und sie erkennt ihn an den grünen Augen. Professor Martin Warnkin schwenkt seine Brille und sagt: „Wohingegen die Frauen auf den Bildern Ghirlandaios auf uns wirken wieSommergäste in der Datscha, gefaßt sich gebend und beherrscht, in Wahrheit aber hypersensitiv, und jeden Augenblick könnte die Erhabenheit von einer Eruption der Leidenschaft verschlungen werden.“ Leda setzt ihre Sonnenbrille auf und sieht aus wie eine von der Hegel-Vorlesung gelangweilte Sorbonne-Studentin, die sich in die rue du Faubourg St.Honoré begibt, um die sportlich-eleganten Schuhe anzuprobieren, die sie neulich im Schaufenster bewundert hat.
„Hast du geschlafen?“
Aljoscha blinzelte. Beileibe, er war eingedöst in seinem Lehnstuhl auf der Piazza della Signoria, Tuschkin macht ein Nickerchen, nicht wahr, aber wie sagt Majakowski in Jubiläumsverse: „Ich ahnte nie, daß soviel tausend Tonnen in meinem Schädel lagerten.“ Ein gefallener Engel schwebt über der Stadt, rückwärts in der Zeit.
Leda nahm ihre Tasche. „Komm, wir wollen Karten kaufen!“
Der Gang ins Blendendweiß, ins Licht. Dante hat das Ende der Brücke erreicht. Leda und Aljoscha überquerten den Platz, auf dem einst Savonarola brannte. Bei den Uffizien blieben sie stehen an einem Stand. Einem Kunstpostkartenstand. Dante vor dem Herzstillstand. Leda nahm eine Karte in die Hand. „Das ist ein schönes Bild!“ Sie wendete die Karte und las vor: „Es heißt Dantes Begegnung mit Beatrice – “
Aljoscha sieht das Bild.
Dante sieht Beatrice.
Auf der Hinfahrt, im rumpelnden Nachtzug, als Leda endlich Schlaf gefunden hatte, und Aljoscha sich fragte, was den Knochenbau eigentlich zusammenhält, war ihm ein Traum aus seiner Vorzeit wiedereingefallen. Er mochte 11 oder 12 gewesen sein in jenem Sommer, den er auf dem Gut seiner Großeltern verbrachte. Mattes Land, in dem die Lust sich lautlos nähert. Als er an diesem Morgen erwachte, fand er die lichte Frische, die durchs Fenster drang, todtraurig. Er haßte selbst die Spatzen, die aufgelegt zu jeder Dummheit dem Tag entgegenzwitscherten. Er sehnte sich zurück in die samtweiche Nacht, durch die ihn eine Frau geführt hatte, eine wunderschöne, unbekannte Frau. Er wisperte die Silben ihres Namens, bis er nicht mehr wußte, ob es überhaupt der richtige war. Nichts war von ihr geblieben, dann war auch ihr Name vergessen. Ein französischer Name, das hämmerte er sich ein. Sie hatte ihn eingeweiht in Mysterien der Weiblichkeit, hatte die verheißungsvollsten Worte durch das Kirschrot ihrer Lippen kommen lassen, hatteAugen, die den Grund, warum man da war, heller machten. Schwarze, elastische Gewebe wie von einer wollüstigen Spinne waren ihr Dekor. Im Haar trug sie Kristalle und die Schätze des Schnees. Ihre Hände wirkten unbekannte Wunder, und ihre Werke waren kalt und heiß. Sie korrigierte seine Fehler, und solange er tat, was sie sagte, hatte er nichts zu fürchten im wilden roten Puls des Alls.
Im Traum hatte er verstanden, aber das Tageslicht lieferte ihn der Unklarheit zurück. Er fühlte sich verlassen und er hätte weinen mögen. Als er sein weißes Hemd vom Stuhl nahm und es beim Anziehen falsch zuknöpfte, war er kein Kind mehr, und seine Frage an das Leben war aus dieser Nacht wie Ernte eingebracht – die eine und einzige Schönheit, die ihm erschienen war, wo war sie?
Jeder Traum ist ein Ruf aus der verlorenen Heimat.
Aljoscha gab eine Handvoll Scheine hin für einen Druck des Gemäldes mit dem Titel Dantes Begegnung mit Beatrice. Er nahm sich vor, sofort nach seiner Rückkehr Dantes Göttliche Komödie zu lesen und sich auf die Wiederbegegnung mit
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