Aljoscha der Idiot
sollen, denn auf dem Rathausplatz war es merklich kühler als vor 24 Stunden. Leda fror erbärmlich und schien nicht mehr geneigt, sich weiteren Widrigkeiten auszusetzen. Aljoscha hatte seine Jacke ausgezogen und um Ledas Schultern drapiert, er hielt die Fröstelnde im Arm, aber es half alles nichts. Die Nacht erklärte den Ausnahmezustand nicht für Leda.
Der Ausnahmezustand, das ist der Zustand, in dem Lust und Unlust nicht mehr sind, was sie waren. Ausnahmezustand ist, wenn dem Grenzposten Ich der Grenzposten Anderes Ich begegnet und beide erschrocken auf das erste Wort des Gegenübers warten. Der Zustand, in dem Grau zu Blau wird, einfach, weil es möglich ist. Ein Sichverlieren an den Rändern und dann Sichwiederfinden in einem vorher unbekannten Zentrum. Der Zustand, in dem Leiden kein größeres Leiden ist als Nichtleiden. Die Erkenntnis einer totalen Verwirrung und die Verwirrung einer totalen Erkenntnis. Aljoscha hatte den Ausnahmezustand als kleiner Junge entdeckt, an einem klirrend kalten Winterabend.
Es war ein Versteckspiel. Bis weit nach Einbruch der Dunkelheit hatte Aljoscha ausgeharrt in seinem Unterschlupf; bis er wußte, daß niemand mehr nach ihm suchte. All seine Spielgefährten waren heimgestapft zum Abendessen. Die Gottverlassenheit, die auf einmal über allem lag, war schier unglaublich. Die Kälte fühlte er nicht mehr, er fühlte nur noch sein kleines Ich in einem unvorstellbaren Kosmos von Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten waren Punkte, und auf jeden dieser Punkte konnte es einen verschlagen. Alles konnte geschehen. Man konnte sich aus Angst vor dem Unbekannten beinahe in die Hose machen und zugleich den Fall in die verborgene Welt endlos verlängern wollen. Man konnte eingehüllt von ewiger Dunkelheit in einem Gewirr von Sträuchern liegen, ohne daß ein anderer Mensch auf dieser Erde davon wußte. Man hörte Stimmen aus dem Haus, und die dort miteinander sprachen im Warmen und Behaglichen, sie wußten nicht, daß unter ihrem Fenster einer lag, der lauschte. Man sah die Scheinwerfer eines Autos, man sah einen Mann, der seinen Wagen abschloß und sich eine Zigarette anzündete, und der Mann ahnte nicht, daß jemand sein Gesicht im Lichtschein der Streichholzflamme sah.
Der da atemlos lauschte und die Welt beobachtete, fühlte sich, hundert Meter von dem Tisch entfernt, auf dem sein Abendbrot wartete, ausgesetztin maßsprengender Entlegenheit. Ob er zwischen diesen Büschen lag oder auf den Ringen des Saturn spazierenging, war einerlei. Und doch konnte nichts ihn daran hindern, gleich aus dem Gebüsch zu kriechen und nach Hause zu stiefeln. Man war nämlich existent. Am Leben. Auf der Welt. Man war immer da. Es ging immer weiter. Endless Street.
Zur Stunde des Wolfes im dichten Nebel an einer abgelegenen Landstraße zu stehen, hungrig und frierend auf ein Gefährt zu hoffen, das einen mitnimmt, und doch zu wissen, daß man auf jeden Fahrer wirken muß wie ein Gespenst; die Hand vor Augen nicht zu sehen, aber zu hören, wie im Straßengraben etwas raschelt, wahrscheinlich fette Ratten; in einem fremden Land und doch daheim, gespannt, verstehend, wach und unerklärter Liebe voll: das ist ein Ausnahmezustand. Es gibt schlimmere. Verborgenere. Erhabenere. Apokalyptischere. Mitleidlosere. Es gibt Orte, an denen jedes Wort und jede Geste zehnfach zählt. Geistige Orte oder reale. Den Ausnahmezustand gibt es auf vielen Ebenen. Keiner kennt sie alle, aber jeder kennt ein paar.
Aljoscha dachte an eine andere kalte Nacht, sie lag Jahre zurück – er hatte mit Leda eine Spätvorstellung im Kino gesehen, sie hatten den letzten Bus verpaßt, und sie setzten sich in einen Hauseingang wie zwei verlorene Kinder, ihr Kopf an seiner Schulter, und er sagte: „Ich hätte nichts dagegen, hier einzuschneien mit dir“, und es war der zärtlichste Satz, den er bis dahin in seinem Leben gesagt hatte. Und es hatte tatsächlich zu schneien begonnen, und Leda antwortete: „Ich auch nicht.“
Jetzt aber fror Leda ausschließlich frierend. Sonnabend war auch der Tag, an dem sie einen Rock trug, und sie neigte jetzt unbedingt zu einem Gang durch die Galerien und Passagen, um sich aufzuwärmen. Aljoscha hatte von irischen Mönchen des Mittelalters gehört, die sich ins eisige Meer stellten, bis ihnen die Wellen das Kinn kitzelten. Um Gott näher zu sein.
„Warum lachst du denn so?“
„Weil mir kalt ist.“
Jeder bestimmt selbst, was ihm ein Martyrium wert ist. Auf der Bühne war Bedeutenderes als Kälte
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