Aljoscha der Idiot
– für ihn. Nicht für Leda. Nicht in ihrer Welt. In seiner Welt. Q. e. d. – was zu beweisen war. Sie verließen also den Rathausplatz, wandelten durch die Passagen und kehrten erst kurz vor Ende des Balletts wieder zur Bühne zurück.
Nachts, als Ledas Rock gefallen war, als sie sich liebten, als der torkelnde Mond sich freute wie ein Honigkuchenpferd und nur Geistesabwesende Blitze zuckten, gab es nicht den Hanf, um sich einen Strick daraus zu drehen. Später jedoch, als Leda in Schlummer gefallen war und Aljoschas Gedankengut so schlecht und recht zurückgekehrt, mißfiel es ihm auf einmal sehr, daß er der Magie, die sich ihm gestern erst enthüllt hatte, heute schon wieder entfremdet war. Die Magie war eingetauscht gegen Ledas Wohlbefinden, und Ledas Wohlbefinden war eingetauscht gegen Valeurs der Ekstase. Er schien ein reicher Mann und fühlte sich doch wie ein Bettler.
Er hatte einen Rest von Ritterlichkeit gezeigt, wie selbst der letzte Gote ihn noch aufbringt, als er die spärlich Bekleidete dem Ingrimm der Elemente nicht länger aussetzte. Betrachtete man es jedoch von einer anderen Seite, hatte er schlicht das Glühen der Nachtsonne erkauft, deren Wärme er noch auf der Haut spürte. Beim Gang durch die Passagen hatten sie sich ein zukünftiges Zimmer ausgemalt, einen Sekretär aus dem Antiquitätenladen hineingestellt, das blaßblaue Papier aus dem Schreibwarengeschäft auf den Sekretär gelegt, und währenddessen hatte der Abendwind das Lied von der tiefen Welt in die Galerie geweht wie eine boshafte Anspielung; wie wenn er sagen wollte: und so erstirbt dir das Erlebnis.
Aus dem magischen Ballett war Läpperei geworden, Beiwerk, eine abendliche Zerstreuung. Nun, was soll sein! Hatte er denn Leda die Magie anbieten wollen wie ein Stück Krümelkuchen? Dumm, dumm, dumm und dumm! Denn wie man es auch wendete, es war ja gerade dies das Schwerwiegende, daß sich gestern die Magie nur deshalb rehscheu an ihn herangewagt hatte, weil er allein erschienen war. Beunruhigend genug, Himmeldonner.
Eigene Welt, pah! Was suchte er denn dort? Nichts, was nicht von Übel war! Wenn sein Leben dazu beigetragen hatte, daß Leda jetzt so sanft und friedlich dalag, dann zählte nichts daneben. Dann war alles andere nur noch Wasser-in-die-Wolga-Schütten.
Freilich schlug sich Aljoscha immer häufiger mit dem Gedanken herum, daß sein Beitrag zu Ledas Glück begrenzt war auf ein genau bemessenes Quantum; alles darüber hinaus sank unbrauchbar auf Grund wie ein Salzklumpen in einer gesättigten Lösung. Seine zelotischen Anfälle erschöpften Leda nur. Einmal war ihm plötzlich jeder Tag, den Leda ohne ihn gelebt hatte, Grund genug geworden, sich unsäglich zu peinigen. Oft waren sie sich gänzlich abhanden gekommen in den ersten Jahren, einer für den anderen über Monate hinweg nur in Geredeund Gerüchten existent, und über jeden einzelnen dieser längst vergangenen Tage stöhnte er jetzt wie die Hölle, quälte Leda wochenlang mit inquisitorischer Befragung, wollte wissen, was sie zu diesem und zu jenem Zeitpunkt gedacht und getan habe; sie aber konnte nichts mehr anfangen mit seiner auf Nadeln tanzenden Besessenheit. Wie Kugelblitze waren seine Gefühle damals durch ihr Seelenleben gejagt, als wollten sie Versäumtes hetzen und Verschüttetes aufwühlen – aber diese sinnlos hin und her zuckende Passion hatte kein Ziel mehr gefunden und sich elektrisch abgeleitet ins Freiland gebohrt.
An Vergangenes denkend, fiel ihm manches im Vergangenen nie Gewesene ein, aber Gottsblitz und schwere Not, man wird ja irr. All dies war dumm, verdreht und garantierte, daß die Stimmung detonierte, in der Leda mit ihm nach Italien wollte. Also Schluß mit alldem, Schluß mit – jedenfalls, Schluß!
Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß die Italienreise das Ich in hochbesondere Verfassungen stürzt. Goethe beispielsweise lief wie ein junger Hund durchs Land auf der Suche nach Arkadien, Selbstbefreiung und der Urpflanze, dem Urphänomen in allen Pflanzen, das Schiller, der an Ideensucht litt, „keine Erfahrung, sondern eine Idee“ nannte. Feuerbach mußte den Uffizienpalast in Florenz, den er soeben erst betreten hatte, unter Tränen der Ergriffenheit gleich wieder verlassen und fühlte „überall diese Schauer“. Gustav Aschenbach: Tod in Venedig, aber mit dem letzten Blick, der dem apollinisch ausgestreckten Arm des jungen Tadzio „ins Verheißungsvoll-Ungeheure“ folgt, hat er den ersehnten Ausnahmezustand
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