Aljoscha der Idiot
singt.“
TIEFER NOCH ALS HERZELEID
Sie zeigt sich in den Winkelspiegeln eines Kaleidoskops, in dem bunte Glassplitter zu Sternen werden, und sie spricht: „Schönbildschauer, meine Gunst ist ein Palast, mit hunderttausend Juwelen geschmückt. Lerne zu vergessen und tritt ein.“
WEH SPRICHT: VERGEH!
Sie steht in einem perfekten Kreis und spricht: „Glaubst du an die Möglichkeit des Ideals, das Seiende zu berühren?“
DOCH ALLE LUST WILL EWIGKEIT, WILL
Sie benetzt sein Auge mit einer Träne und spricht: „Du bist das Auge. Du bist der Schauplatz. Finde die eine Illusion, von der du vergessen kannst, daß sie eine ist.“
TIEFE, TIEFE EWIGKEIT
Morgenglocken lösten den Bann: der Traum verflüssigte, die Umgebung nahm ihren Platz wieder ein. Auch der Namenlose auf der Bühne rieb sich die Augen: er sah ein ätherisches weibliches Wesen – einen Engel. Jähe Lichtung. Kehre des Seins. Er näherte sich vorsichtig, und der Engel scheute nicht zurück, gab sich zum Pas de deux, zum Nichts als Zwei…
Oder war dies wieder nur ein Traum in einem Traum? Zur Schlußsequenz der Symphonie über schicksalsschweren Paukenschlägen schritt das engelhafte Wesen am Bühnenrand von rechts nach links, als müßte es die Parade der vom Schattenreich mit einem Gestellungsbefehl Versehenen abnehmen, schritt langsam von einem Ende zum anderen, von Kether zu Malkuth, vom Sein zum Woanderssein, von den Brettern, die die Welt bedeuten, zum Ausgang, von der Wirklichkeit zum Riß in der Wirklichkeit, von irgendeinem Hier zu irgendeinem Dort.
Und gerade so, als läge im Erscheinen dieses ätherischen Wesens nichts anderes als ein immerwährendes Urteil, das Unerreichbarkeit verhängt, sah der Namenlose aus der Ferne zu wie ein Gerufener, der doch nicht folgen kann, obgleich es sein Wille ist. Und mit einem letzten Blick inihre unbewegten Augen fragte er sie – nichts. Er fragte sich, ob er sie wohl jemals wiedersehen würde. Und sagte stumm Adieu.
War dies das Ende? Oder schritt sie nur voraus auf einem Weg ins Folgenschwere, in eine wirkliche Geschichte, die vielleicht immer schon bestanden hat, als einzig mögliche? Es gab keine Antwort mehr auf diese Frage. Der Vorhang war gefallen.
Die Menge gönnte den Tänzern stürmische Ovationen, um sich dann doch recht eilig zu zerstreuen. Aljoscha sah sich um. Er hätte gerne noch auf irgendwas gewartet, doch er wußte nicht, worauf. Als er zu seinem Fahrrad ging, fiel ihm endlich ein, woher er den Text des Liedes von der tiefen Welt kannte – es war das Mitternachtslied aus Nietzsches Zarathustra. Das Gefährt für den Heimweg stand seltsam resigniert da. Zen-Meister Huang-Po hätte gesagt: Stell’ dein Fahrrad nicht an einen Baum, an den der Hund pißt.
Am folgenden Abend wurde das Ballett Dritte Sinfonie von Gustav Mahler an gleicher Stelle nochmals aufgeführt. Es war Sonnabend; der Tag, an dem Leda als Lenkerin eines Automobils und Aljoscha als notorischer Beifahrer dem Lichtstrom der Boulevards folgten. Sonnabend war der Tag, an dem Leda Lippenstift und Mascara akzentuierter applizierte als an anderen Tagen. Wiewohl noch immer unbedingt dezent. Sie legte Wert auf Natürlichkeit, ob aus Hang zum Natürlichen oder aus einem anderen Grund, sie lebte die Fraulichkeit einer Frau, deren Geschmack sachlich-kühl ist und deren Stil sich nicht verrätselt.
Ledas Körper war erschaffen von einem italienischen Maler der Renaissance. Sicher kam er aus Venedig und nicht aus Florenz. Leda war nicht schlank, wäre dem Zeitalter des Barock jedoch als Magersüchtige erschienen. Ihr dunkelblondes Haar, glatt, aber nicht seidenglatt, sondern stets ein wenig melancholisch winddurchweht wirkend, war taillenlang geworden, bevor sie es auf Schulterlänge hatte schneiden lassen in einem rigiden Akt der Modernisierung des Cinquecento. Ihre Augenbrauen waren dunkler als ihr Haar, Hieroglyphen für „Strenge“, dann wieder für „Güte“, Augenbrauen, die irgendeine sublime Wohlgeordnetheit zu überwachen schienen. Wenn es nicht das Septembersonnenlächeln war, dann waren es diese Augenbrauen, die bewirkten, daß Ledas Antlitz ein Trost war für jeden, der bereit war, es zu sehen. Ihre Augen waren grün, von einem grüneren Grün als Aljoschas Augen, die ein undefinierbares Gelblichblaugraugrün zustande brachten.
Sonnabend also war der Abend, an dem Leda und Aljoscha den Wagen unter Neonlichtern parkten; meistens gingen sie ins Kino. Vielleicht hätten sie auch an diesem Abend ins Kino gehen
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