Aljoscha der Idiot
ein Zustand. So wie es Bärtige gibt, die keinen Bart haben, so wie Moby Dick kein Wal ist und Gregor Samsa ein Insekt, so wie man Maler sein kann, ohne zu malen, und außerirdisch, obwohl Erdling; so wie Kolumbus in Indien war und ein chinesischer Weiser 12 Meter groß, so ist man Russe aus innerer Wahrheit. Russisch sein heißt, daß man keine Erscheinung und keine Kontur des Seins für sich bestehen lassen kann, sondern alles mit der Macht der Gefühle überzieht. Russisch sein heißt, unwirklich zu werden vor Ausgeliefertsein an jede Wirklichkeit und ständig das Einwirken feinster Vibrationen zu fühlen, aber nie zu wissen, wie man darauf anspricht. Russisch ist, sich nicht nur peitschen zu lassen für eine Idee, sondern sich dafür auch noch selbst das Hemd vom Leib zu reißen. Russisch sein bedeutet, daß nichts läßt: von Gelassenheit also das Gegenteil. Russisch ist, die Realität unbeschreiblich zu finden, weil allesan ihr etwas suggeriert. Russen haben keinen Common sense, nehmen Kinder ernst und sind die besten Freunde magerer, hungriger Katzen. Russen machen alles noch viel komplizierter, als es ohnehin schon ist, und brauchen viel Musik als Stoff zum Überleben in der Sehnsucht. Russisch sein heißt, Dinge zu verbinden, die andere nicht verbinden, und das Leben sehr wichtig zu finden mit dem Kopf unter der Guillotine. An die eine und einzige Schönheit zu glauben und das Rätsel nicht zu lösen wissen, das für andere nicht einmal vorhanden ist. Russisch sein heißt, alles etwas falsch verstehen. Das ist das Russischste am Russen: er versteht alles etwas anders.
Russen haben Respekt vor den Sonderbarkeiten, die in einem Charakter beschlossen liegen, und sie wissen, daß man von allem immer nur so wenig sieht und weiß, daß es fast nichts ist. Man kann zum Beispiel sagen, daß die Wiese grün ist. Man kann aber auch sagen, daß die Wiese aus unzähligen Bestandteilen und Begebenheiten besteht. Wenn zwischen den Gräsern eine Libelle schwirrt, deren Flügelschlag Luftbewegung auslöst, die am anderen Ende der Welt zum Wirbelsturm geworden ist, der eine Flutkatastrophe verursacht, die 5000 Menschen obdachlos macht, und einer dieser Menschen wandert aus Verzweiflung in ein anderes Land, besucht dort einen Sprachkurs, verliebt sich in die Sprachlehrerin und heiratet sie, dann ist auch der Trauring im weitesten Sinne die Wiese. Um etwas wirklich zu beschreiben, müßte man alles beschreiben. Was weiß man also vom Leben? Oder von einem Charakter? Was weiß man davon, wie eine Handlung zustande kommt? Oder was sie bedeutet? Oder ob sie das ist, was sie scheint? Der Nichtrusse kennt das Leben. Er weiß, was er will, und er will, was er weiß. Darum steht er da wie der älteste Realismus auf Gottes weiter Prärie, von seinem John-Wayne-Standbein keinen Zentimeter wegzubewegen, ob nun Liberty Valance das kausal-mechanische Weltbild als anthropomorph brandmarkt oder Häuptling Geronimo zu einem Goethe-Rezitationsabend einlädt. Er hat alles ein für allemal definiert und knarzt für immer „Hundesöhne von Apatschen“.
Pjotr war nicht zu Hause. Aljoscha rief in der Klinik an, in der Pjotr manchmal den Nachtpförtner gab, und tatsächlich hatte er Glück. Aljoscha hielt ein Taxi an und befahl dem Fahrer den schnellsten Weg zu einer Niederkunft. Der Taximann suchte im Radio Musik, die ihm angemessen schien für das freudige Ereignis. Humpta genug, um einen Ochsen zu erstaunen.
„Wieso bist du schon hier?“ rief Pjotr, als er Aljoscha in der Halle sah, und erfuhr dann, daß er gerade entbunden habe. „Ich bin überrascht, dich zu sehen! Mach’s dir bequem. Ich schreibe gerade über das gespaltene Bewußtsein.“ Auf dem Tisch der kleinen Pförtnerloge lag die noch imposanter gewordene Mappe, die Aljoscha schon bekannt war, daneben ein paar Bücher und ein Brief.
„Das gespaltene Bewußtsein?“
„So heißt einer meiner Köpfe. Ich dachte, ihr würdet noch länger in Florenz bleiben?“
„Leda ist noch bei Sonja. Ich muß zurück.“
„War es schön?“
Aljoscha sank in die Polster einer alten Couch und hatte plötzlich das Gefühl, daß er soeben zum letzten Mal mit Leda verreist war. Er wußte nicht, warum. Vielleicht nur, weil die Reise für ihn vorbei war und weil er jetzt hier saß. Die chemophysikalischen Prozesse in seinem Hirn bewirkten, daß er an das Dahingleiten eines schönen Schwans auf einem Teich dachte.
„Ja“, sagte er. „Es war schön.“
Ein mysteriöser Vorfall hatte sich
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