Aljoscha der Idiot
zum Beispiel. Meines. Ich sagte mir zuerst: na schön. Ich täusche mich hinein in eine eigene Welt. So tun, als ob, und dann die Rechnung unterschreiben lassen: da siehst du, wie es endet, wenn du für dich behältst und ich für mich. Riskantes Spiel für einen bitteren Triumph. Und nicht einmal die halbe Wahrheit. Wie sagt Majakowski in Die Wirbelsäulenflöte: „Als wenn meine Hölle das Weite suchte!“ Ein Mal ist Kains Mal. Die eigene Welt ist niemals virtuell. Irgendwann fallen die Skelette aus den Schränken.
Mehr als die halbe Wahrheit war, daß er beschlossen hatte, jenen Mechanismus anzuhalten, durch den alles, was für Leda keinen Wert besaß, auch für ihn ganz unbedeutend wurde. Was schon aufgegeben war, sollte wieder ihm gehören, er wollte wieder Zugang zum ganzen Fundus an Anachronismen des Herzens, zum Latenten und Latentgemachten. Vorwärts zurück! Wieder wissen, was in welchen Winkeln wartet! Heimlich ab ins Unheimliche, erinnernd durch die Korridore zu letzten und verbotenen Türen, hinter jede Spinnwebe schauen, allem nachhängen auf Nachgängen, wehende Vorhänge und schleichende Vorgänge – das Haupt-Gebäude, die Baukunst des Bewußtseins, mußte wieder Sternenlicht-Depot sein! Jemand hält, denn es ist ein Schauerstück, das Reagenzglas mit dem Stoff, aus dem das Fasziniertsein ist, in die Höhe, nicht zufällig vor einem Spiegel, aus dessen Tiefe ein Doppelgänger langsam näher kommt. 2000 Faden tief gleitet der Fangarm eines nachtaktiven Octopus um einen Stein. Aber was daran gebunden war, ist aufgetaucht. Erinnerungen tanzen um ihr Leben. Faszination ist Tatendrang der Seele. Auch das ist nicht die ganze Wahrheit.
JUST BE STILL WITH ME
Leda stand auf dem Bahnsteig, und Aljoscha machte Zeichen durch das Glas der schon verriegelten Tür. Als der Zug sich in Bewegung setzte, hielt Leda erschrocken die Hand vor den Mund. Dann begann sie zu laufen, Sonja mit ihr, um noch eine Weile sichtbar zu bleiben im gläsernen Rechteck, sie liefen schneller und schneller, bis das Schnauben der Lokomotive weiblichen Atem besiegte, die Bahnhofslichter schwanden und Aljoschas Spiegelbild im Fensterglas erschien vor rabenschwarzer Nacht.
Er dachte daran, wie er in Florenz gesagt hatte: „Ich werde den Dom festhalten“, und das Objektiv der Kamera auf die Marmorarchitektur von Santa Maria del Fiore gerichtet, dann aber mit einem raschen Schwenk statt dessen ein Photo von Leda gemacht hatte. Vom Dom seines Lebens.
Aljoscha fuhr die Nacht hindurch und dann noch einen Tag hindurch, endlos nordwärts, wenn er nicht schon nichtswärts fuhr im großen Geisterzug. In diesem Fall war es strategisch klug, ein Buch von Nietzsche dabei zu haben.
Aljoscha las die Unzeitgemäße Betrachtung, in der Nietzsche über die Geschichtlichkeit nachdenkt. Und feststellt, daß es keine Gegenwartgibt ohne Vergangenheit, und daß es keine Gegenwart gibt mit zuviel Vergangenheit. Der Bewahrer des Bewahrenswerten lebt die Gegenwart noch intensiver, der Hüter des Toten ist schon selber tot. Es ist möglich, an einem einzigen Erlebnis, an einem einzigen Unrecht, an einem einzigen Schmerz unheilbar zu verbluten. Und weil das möglich ist, bedarf es der Kraft und der Kunst, unhistorisch zu sein. Man muß im rechten Augenblick vergessen können, so wie man sich im rechten Augenblick erinnern kann. Nur auf dem Wege des Vergessens kann sich die Ankunft des Künftigen vollziehen. Aljoschas Ankunft in B*** vollzog sich kurz vor Mitternacht. Er hatte vor, Pjotr zu besuchen, aber er war offenbar auf dem Wege des Vergessens und kannte sich in der Stadt nicht mehr aus. Er drang vor bis in das Rotlichtviertel, dann fragte er eine der Damen, die am Kreuzweg standen, nach der Richtung, und die Leichtbekleidete gab ihm den Hinweis: „Da lang, nächste links.“
„So einfach ist das. Danke.“
„Wie wär’s vorher mit ’ner Nummer? Von 100 aufwärts geht fast alles.“
„Nummern, Zahlen… das wär’ was für Pythagoras“, sagte Aljoscha.
Aljoscha ging da lang, nächste links, und die Holde, zu deren Dessous es wenig Darüber gab und die ihn angesehen hatte wie den ärmsten aller Narren, rief ihrer Mitschwester zu: „Der muß das erst noch lernen hier!“
Russen sind immer in der Fremde, doch sie wissen: der Weg, den das Weib weist, ist der einzige. Der da sagte: „Frag Weib dreimal, dann tu Gegenteil!“, war niemals Russe, allenfalls dem Paß nach, aber Russe zu sein, ist keine Frage der Nationalität; Russe zu sein ist
Weitere Kostenlose Bücher