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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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aussprach, lief der Mann davon. Es ging nämlich darum, sich vor bestimmten Worten und Sätzen in verschiedene Zimmer eines Châteaus zu retten. Wer es zehnmal hintereinander schaffte, bei dem kehrte die Erinnerung zurück.
    Aljoscha erwachte früh am Morgen und trat den Heimweg an, nicht ohne Pjotr die Unzeitgemäßen Betrachtungen zu hinterlassen, denn es schien, als hätte ohnehin nur ein zeitgemäßes Zusammentreffen bewirkt, daß er auf dem Weg zu Pjotr gerade jene Passagen darin aufgeblättert hatte, die von der Notwendigkeit handelten, sich gegen die eigene Vergangenheit zu verwahren.
    Nur, daß die Vergangenheit lebendig sein kann wie ein Kind.
    Und wenn ein kleines Mädchen vor dir steht und weint, kannst du es nicht Lügenmädchen nennen.
    Sonst wird der Regen zornig.

8
    Am Tag, der ihr Geburtstag war, weilte Leda noch bei Sonja, während Aljoscha den Blick auf Dantes Begegnung mit Beatrice an der Westwand seines Zimmers ruhen ließ. Ansonsten schrieb er mit dem unbeugsamen Willen einer Kompaßnadel an seiner philosophischen Abhandlung, und mit der Zerstreutheit eines philosophisch Abhandelnden setzte er Ledas Geburtstag in den Sand.
    Er hätte sich „eine Katze besorgen“ sollen, wie Seemänner zu sagen pflegen, wenn sie „ganz sicher gehen“ meinen. Sein Geburtstagspaket fürLeda traf zielgenau 10 Stunden, nachdem Leda von dort abgereist war, bei Sonja ein – er hatte den Zuschlag für Expreßzustellung vergessen. Und den Kauf einer hübschen Schachtel, die Leda einmal bewundert hatte und die zur Aufbewahrung all der Dinge diente, die Mädchen so sammeln, hatte er aufgeschoben, bis das Objekt ausverkauft war und neu bestellt werden mußte. Als Leda wieder zu Hause war, stand Aljoscha mit leeren Händen da.
    „Alles, was ich dir schenken könnte, bin ich selbst, verflixt.“
    „Mehr will ich doch gar nicht“, sagte Leda.
    Eines Abends bekam Aljoscha einen Anruf von Marja, und ihre Stimme klang panisch. Kontrolliert panisch.
    „Was soll das bedeuten, Aljoscha? Ich habe einen Brief aus London bekommen.“
    Wir denken Zusammenhang, wo keiner ist – manchmal. Wir denken Zusammenhang, wo keiner sein muß – immer.
    „Ich kenne niemanden in London“, sagte Marja. „Und auf dem Umschlag steht kein Absender. Nur ein ‚A‘. Kannst du dir einen Reim darauf machen?“
    Aljoscha konnte sich keinen Reim darauf machen.
    „Soll ich den Brief öffnen? Soll ich ihn dir vorlesen?“
    „Warum? Das geht mich doch nichts an, Marja.“
    „Vielleicht ist mir wohler, wenn du bezeugst, daß ich weder Gruselgeschichten erfinde noch Wahnvorstellungen habe. Soll ich mit dem Beweisstück rascheln?“
    Aljoscha lauschte den elektrischen Impulsen, denen mehrere hundert Kilometer entfernt das Knistern von Papier entsprechen mochte.
    „Und der Brief ist in London abgestempelt?“
    „Allerdings! Und das ominöse ‚A‘ ist ja wohl die Initiale dieser Frau, deren Rückkehr Pjotr so sehnsüchtig erwartet. Weißt du etwas über sie, Aljoscha?“
    „Nein, gar nichts.“
    „Warum sollte sie mir schreiben? Das ist doch geradezu lächerlich. Trotzdem fürchte ich mich davor, den Brief zu lesen – willst du mir nicht sagen, was zwischen ihr und Pjotr wirklich ist? Du weißt es! Du weißt, was in diesem Umschlag auf mich wartet, oder?“
    „Nein, Marja. Soweit ich weiß, besteht gar keine Verbindung zwischen ihr und Pjotr.“
    „Wie meinst du das, keine Verbindung?“
    „Er hat nicht einmal ihre Adresse in London.“
    Aljoscha hörte Marjas Atem über dem Rauschen der Telephonleitung. Vielleicht wußte irgend jemand, wie Marjas Adresse nach London gekommen sein sollte, vielleicht waren da Mächte am Werk, die weiß Gott keine Veranlassung hatten, sich Aljoscha bekannt zu machen, vielleicht war das ganz gleich. Jedes weitere Wort über den Brief erübrigte sich. Das Rauschen, das zwei Menschen sich ans Ohr hielten, wurde zur Geräuschkulisse im Hiatus, der sich plötzlich auftat zwischen ihnen. Vielleicht war nur Marja am anderen Ende der Leitung, nicht Medea; dann gab es irgend eine Antwort hinter irgend einer Grenzlinie im Nebel. Und wenn es doch der heiße Atem der Medea war, dem Aljoscha lauschte, dann hatte jede Einzelheit in ihrem Plan irgend einen Sinn. Als wäre man eingedrungen in die Materie eines Traums, um mit traumhafter Geschwindigkeit die Arme zu bewegen im Versuch, aus der verstandraubenden Menge der umherschwebenden Fragmente eines zu ergreifen, so versuchen die Menschen, einander festzuhalten. Aljoscha

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