Aljoscha der Idiot
hatte weder das Verlangen noch das Recht, zu urteilen. Wir urteilen und richten immerzu und haben doch nur ein Streichholz, wo ein Scheinwerfer vonnöten wäre.
Kurz, bevor die Hochspannung das Kabel schmolz, seufzte Marja resigniert oder auch erleichtert. „Du weißt mehr, als du sagst“, ihre Stimme klang fast kindlich, „aber ich bin dir nicht böse! Du bist eben undurchschaubar. Ja, das bist du! Weißt du, daß ich mich immer ein wenig vor dir fürchte?“
„Vor mir ?“
„Ja! Du bist nicht ganz geheuer, wirklich, du bist irgendwie – sinister!“
„Du machst Witze.“
„Nein! Weißt du denn nicht, wie du auf Menschen wirkst? Du siehst aus wie Mephisto.“
„Das sind nur die Schatten unter meinen Augen. Ich kann nichts dafür. Ich wurde so geboren.“
„Aber nein, es ist dein Blick. Es ist deine Art. Man wird nicht schlau aus dir. Du wirkst wie einer, der im Dunkeln sehen kann. Vielleicht bist du ein König, aber keiner kennt dein Königreich. Du hast etwas Beunruhigendes an dir, auch wenn du nichts sagst. Oder gerade dann. Du wirkst so rätselhaft überlegen. So wissend. Oh, ich weiß, ich weiß,man soll nicht falsch Zeugnis reden wider seinen Nächsten, aber dies ist ja richtig Zeugnis reden wider einen weit Entfernten. Du hast etwas Zwielichtiges an dir. Nein, nicht zwielichtig, wie heißt das Wort – etwas Zweideutiges !“
„Jesus, Marja! Ich lehne alle Behauptungen wegen Behauptungsunfähigkeit ab. Es ist genau umgekehrt! Erstens bin ich scheu – “
„Dann eben scheu und einschüchternd, na und? Das Resultat ist diabolisch.“
„Diabolisch ? Da schnauben ja die Pottwale!“
Und genug, um eine Katze zum Lachen zu bringen. Er war in etwa so einschüchternd wie eine Kammerzofe. Andererseits – nun ja, andererseits war Aljoscha gerade kürzlich auf der Straße seinem ehemaligen Lehrer Timkow begegnet, und bei diesem zufälligen Wiedersehen hatte Timkow ihm ein sonderbares Geständnis gemacht:
„Wissen Sie, Tuschkin, Sie waren ein unheimlicher Schüler. Lächeln Sie nur, ja, lächeln Sie, das paßt zu Ihnen! Sie machten damals auf mich stets den Eindruck, als führten Sie Böses im Schilde – wie Sie da so saßen… als hätten Sie Finsteres im Sinn! Tatsächlich, ich war immer auf der Hut bei Ihnen. Es geschah nie etwas, Sie verstehen, Sie haben mich da quasi angenehm enttäuscht, aber wissen Sie, das war vielleicht gerade das Unheimliche – daß nie etwas geschah. Tja, sowas – durchschaut habe ich Sie nie, Tuschkin.“
Was war die alte Gleichung von Wesen und Erscheinung? Für die Katze. Wenn sein Äußeres so zweideutig erschien, dann war die Frage, wo sich sein exzessives Streben nach Eindeutigkeit abzeichnete – im Gehirn?
„Ich bin überhaupt nicht wissend “, widersprach er. „Ich sage dir, was mein Malheur ist. Die Kluft zwischen dem, was man weiß, und dem, was man sagt, kann man immer schließen. Aber die Kluft zwischen dem, was man weiß, und dem, was es zu wissen gibt, die wird immer größer. Das ist mein Malheur.“
Und das ist mehr das Faust-Symptom. Mephistophelische Züge und faustische Evidenz-Insuffizienz (der wissenschaftliche Name dafür ist „Trotteltum“), das ist eine komische Mixtur, wenn es um Eindeutigkeit geht. Einer, Faust, findet nicht zur Eindeutigkeit, der andere, Mephisto, ist über sie hinaus.
Aber Aljoscha haßte es, ins Wasser zu schreiben. Er wollte wenigstens eine Wahrheit in Marmor gemeißelt, er forderte den Archimedischen Punkt, das Axiom, aus dem sich alles weitere ergibt, es mußte die Oasegeben, die verhindert, daß die Karawane der Träume in Wüsten der Sinnlosigkeit verendet, kurz: er wollte Eindeutigkeit.
Leda hatte geduldig darum gekämpft, unfaßbar geduldig, Aljoscha das Eindeutige sehen zu lassen. Eines Tages hatte Aljoscha akzeptiert, daß das aus ihrer Sicht Eindeutige auch das aus seiner Sicht Eindeutige war. Für Leda hatte Aljoscha nichts Zweideutiges. Oder Diabolisches.
„Wie meinst du das?“ fragte Marja.
„Je tiefer man geht, um so mehr gibt es zu wissen, ganz einfach.“
„Auf geistigem Gebiet?“
„Auf jedem Gebiet. Mit jeder Erkenntnis kommen hundert neue Fragen. Proportional gesehen wird man immer dümmer, je mehr man weiß.“
„In der Liebe gibt es nur eines, das man wissen muß. Das sind deine eigenen Worte.“
„Du sollst nur verstehen, daß du einer optischen Täuschung unterliegst. Ich bin nicht überlegen. Nicht im geringsten. Mich überrascht einfach alles. Mir stockt eigentlich
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