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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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ereignet. Aljoscha erfuhr, daß der Brief, der auf dem Tisch lag, angeblich von einem obskuren Zirkel verfaßt war, der behauptete, jene Alexandra, die eigentlich von Antiope protegiert in Pjotrs Dasein Einzug gehalten hatte, zu „schützen“. Man drohte mit Maßnahmen, falls Pjotr nicht davon absah, Interesse für Alexandra zu bekunden. Wer eine solche Drohung hätte aussprechen sollen, war völlig unklar, zumal die junge Dame wie geplant nach London gereist war und zwischen ihr und Pjotr keinerlei Austausch stattgefunden hatte.
    „Was willst du tun?“
    „Was bleibt mir schon“, entgegnete Pjotr. „Das Warten macht mich unruhig, nicht der Brief. Die Welt hat mich suspendiert. Ich möchte einem Menschen irgendwie verständlich machen, daß es Situationen gibt, über die hinwegzusehen und hinwegzugehen im nachhinein erscheinen könnte wie der bloße Trotz von Unbefugten… weiß nicht, ob ich das Zeug dazu habe – und die Welt gibt mir nicht einmal die Chance, zu scheitern. Ich komme mir vor wie dieser – hing da nicht mal so ein Gott am Baum?“
    „Odin.“
    „Ich fühle mich wie an der Leine aufgehängt, zum Austrocknen. Tja. Wer das Rätsel der Sphinx lösen will, muß leiden. Aber dieser Brief hierist eine seltsame Variante. Zumal da jemand Ereignisse wahrnimmt, die noch gar nicht eingetreten sind.“
    Und wer weiß, ob nicht gerade das ihr Eintreten forcierte.
    „Es ist“, sagte Pjotr, „als hätte ich einen Schlüssel, aber nicht die Tür dazu. Ich wache auf und weiß, die Sonne scheint, und ich denke für ein paar Sekunden, daß sie für mich scheint, und dann – kann ich die Sonne wieder abbestellen. Es ist nicht auszuhalten. Hingeworfenheit, oder wie die Existentialisten das nennen. Wenn jemals ein Perpetuum mobile erfunden wurde, dann von einer Psyche, die dazu verdammt war, um sich selbst zu kreisen. Wenn ich daran denke, was ich versäumt habe, sehe ich das Handwerkszeug des Damokles über mir.“
    „Bisher ist es nur Aufschub, kein Versäumnis.“
    „Magst recht haben, Brüderchen. Aber Warten ist Gift für die Phantasie. Das Absurde ist nirgends gegenwärtiger als in galoppierenden Befürchtungen. Anders gefragt – wer bohnert eigentlich den Boden der Tatsachen?“
    „Keine Ahnung.“
    „Sartre sagt doch, es gibt nur die Freiheit, sich zu Bedingungen zu verhalten. Wo denn, wo denn! Von meiner Freiheit ganz zu schweigen. Ich wäre ja mit ein paar Bedingungen schon zufrieden! Aber man hat mich suspendiert.“
    Welche Macht dies „man“ verbarg, blieb ungeklärt. Nachdem Aljoscha der Aufforderung zu ausführlicher Reiseberichterstattung Folge geleistet hatte, verabschiedete er sich von Pjotr, der ihm den Schlüssel zu seiner objektkunstartigen Mansardenwohnung überließ. Aljoscha legte sich aufs Bett, aber er war nicht in der Stimmung, um zu schlafen. Er ließ das Fenster offen; mittlerweile fiel ein schwerer Regen, und man konnte fast erschrecken, wenn er, vom Wind getrieben, auf die Blätter schlug, als hätte ihn der Zorn gepackt. Aljoscha hörte dem Regen zu und dachte, daß es keine Freiheit gibt, nur Befreiung.
    Und er fragte sich, wie Schwanengesang wohl klang.
    Und er hörte ein Kind weinen.
    Und dann befand er sich mit einigen anderen Gestalten auf einem floßartigen Stück Holz, das vielleicht vier mal vier Meter maß und auf dem weiten Meer trieb. Er fühlte mit wachsendem Unbehagen, wie das Floß sich immer heftiger bewegte, und er machte sich auf schwierige Manöver gefaßt. Sturm kam auf. Das Floß begann sich zu drehen, aber statt in einem Strudel zu versinken, hob es ab – der Aufruhr der Elemente warderart, daß Oben und Unten nicht mehr gut zu unterscheiden waren, die Natur selbst hatte Schwierigkeiten mit den Perspektiven, jedenfalls jagte man jetzt in sagenhafter Höhe über dem Ozean dahin. Aljoscha saß nicht in Fahrtrichtung und drehte im Orkan mühsam den Kopf. Sie rasten geradewegs auf eine hohe Baumwand zu, und er dachte, das ist wohl das Ende, aber das Floß schoß genau durch die Lücke zwischen Baumkronen und Himmel – um dann irgendwo in der Höhe wie ein fliegender Teppich zu landen. Aljoscha und seine Begleiter mußten auf endlosen Holztreppen hinabsteigen, und als sie schließlich unten waren, hatte einer von ihnen keine Erinnerung mehr. „Wirklich keine?“ fragte Aljoscha. – „Nein. Wenn Sie so freundlich wären?“ – „Also gut. Wir müssen die Zeit unterstützen, sie schafft es nicht allein !“ Noch während Aljoscha diesen Satz

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