Aljoscha der Idiot
Verschmelzen mit der Welt. Aber, dachte Aljoscha, durch den Lichtstrahl des Augenzaubers gelangt doch auch das Innerste nach außen; also ist der Blick auch Hingabe. Die Pupille, die von Verengerer und Erweiterer verstellte, von der Iris umkränzte Blende, ist auch eine Austrittsstelle, durch die ein Universum hinaus stößt, eine Innenwelt, die sich wie nach einem Urknall ausdehnen will. Im Blau des Auges – wenn die Iris kurzwellige Strahlen besser reflektiert als langwellige – oder im Grün oder im Mandelbraun erscheint ein Lebenslauf, als würde Seele schimmern auf der Netzhaut. Träume, Hoffnungen, Enttäuschungen, Erinnerung, Verlangen, Warnung, Hilferufe: jedes Auge leugnet, von tief innen her, das unsäglich banale Urteil. Die Augen sind die Wunden auf der Haut der Welt. Das Auge ist der ganze Mensch, nur darum funktioniert der böse Blick – vorgestellte Inbesitznahme.
Der Blick ist nicht nur Wahrnehmung, er ist auch Wahrgebung, nicht nur Aufnahme, sondern auch Abgabe von Realität. Zwei Menschen, die sich ansehen, wirklich ansehen, dringen ineinander ein, schließen die Umgebung aus wie bei einem Liebesakt und liefern sich einander völlig aus. Wer blickt, ist nicht nur Voyeur, er ist auch Exhibitionist. Erblickt zu werden mag Scham verursachen, zugleich aber ist man sehend schamlos. Nicht etwa, weil der Blick entkleidet, Rundungen umrundet oder sich an einen Rocksaum heftet. Sondern, weil es sich beim Sehen überhaupt um etwas handelt, das plötzlichem Mantelaufreißen durchaus gleicht: ich blicke, also offenbare ich mich.
Sehr recht hatte Pjotr. Es kommt darauf an, wie man vor die Sphinx tritt.
Leda war aus Italien zurückgekommen, und Aljoscha hatte sich nicht wie ein hungriger Wolf auf sie gestürzt. Melancholie wehte durch die herbstlichen Tage wie kalter Wind, und der graue Himmel unerklärlicher Ernüchterung ersetzte Florentiner Blau. Leda ließ sich anmerken, daß Alltäglichkeit und Gleichmaß sie begrüßt hatten, und Aljoscha wurde das Gefühl nicht los, daß er dem Spalier der schlechten Laune angehörte. Blicke kamen aus dem Halbschatten anderer Weltebenen, ein schadenfroher Geist ersann Formeln für Relativierungstheorien, Mattherzigkeit stellte sich auf ihre insektoiden Beine. In Ledas Eröffnungen lag leise Animosität, als wäre mancher Duldung Ende nah. Eine Art von Gleichgültigkeit ging um, die kraftlose Hand am ausgestreckten Arm baumelnd, direkt über Aljoscha, wenn er seine Maria Magdalena auf dem Boden liegen hatte und sich über sie beugte, als müßte er sie künstlich beatmen. Die Worte tönte sonderbarer Fatalismus. Beim Spazierengehen an der Elbina sagte er zu Leda:
„Ich kann dich nicht heiraten, wenn du mit deiner Arbeit verheiratet bist.“
„Doch, du kannst!“
„Nein, das wäre Bigamie.“
Nur eine blöde Redensart, aber getönt von sonderbarem Fatalismus. Kurz darauf, als Aljoscha es soeben unternahm, faßbar und verständlich zu machen, daß seine Semesterarbeit sich durchaus nicht in beschwingten Mußestunden quasi ganz von selbst verfertigte, daß fürwahr auch er, während der Mensch den Weltraum eroberte, der Prozeß der Zivilisation uns alle veredelte, die Kultur in höchste Höhen stieß, die Zukunft nur so leuchtete und manche Männer sogar lernten, ein Honigbrot zu essen, ohne den ganzen Frühstückstisch zu verkleben, daß also auch er derweil nicht nur Maulaffen feilhielt, sondern mit den Brüdern Mühsal und Beschwer am Tische saß, und mit den Brüdern Schinderei und Joch, und mit den Brüdern Zweifel und Betrübnis und mit Bruder Mutlos, wie eine Braut für sieben Brüder: gerade in diesem Augenblick geschah etwas Verqueres. Leda trat mit luftabschneidender Bestimmtheit und den Worten „Hier muß ich schauen!“ vor ein Schaufenster, um die darin arrangierten Kleidungsstücke zu besichtigen.
Schon in Ordnung, Mensch. Nur die Schubkraft der Differenz. War seine Silhouette vielleicht auf ihre Augen tätowiert? Es war doch großartig, frei zu sein. Mit welcher Anmaßung verlangte er Ledas Aufmerksamkeit?
Aber wie anmaßend man ist, bestimmen auch die anderen. Aljoscha hätte liebend gern das Schaufenster mit einem Sperrfeuer von Flüchen zu Bruch gehen lassen. Die ausgestellte Mode war nicht Ledas Stil, sie hatte überhaupt keinen Stil, außer, unausstehlich öde zu sein. Nur ein Schaufenster, vor dem Leda einfach aus Gewohnheit stehenblieb, sonst nichts; nur Aljoscha stand davor und sah Gleichgültigkeitsbezeuger, Belanglosmacher,
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