Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
Vom Netzwerk:
ständig der Atem.“
    „Jetzt fängst du aber Grillen, Aljoscha!“
    „Aber nein, gerade nicht! Es ist immer so, ich schwöre es dir, aber wenn du wüßtest, wie ich gerade jetzt… hellhörig bin, wie eine Hotelwand! Das kommt eben, wenn man sich fragt, ob es eigentlich eine Chance gibt, um seiner selbst willen geliebt zu werden.“
    „Was redest du denn nur?“
    „Als Dante Beatrice sah, was sah er da?“
    „Seine Rettung.“
    „Ja! Und die Bestätigung seiner ganzen Existenz. Begreifst du, man geht so durch die Gassen und die Korridore, und die Menschen sehen dich und sagen sich: oho, der überlegene Dante, der geradezu sinistre Dante! Und in Wahrheit irrt man umher wie eine Filmfigur, die ihren Film sucht – weil nichts bestätigt ist. Aber diese Bestätigung, sie könnte sich ergeben aus einer zufälligen Begegnung… eine Begegnung, die so flüchtig ist, daß du denkst, o nein, so nicht, was das Schicksal mir zu sagen hat, will ich Schwarz auf Weiß! Von Gott nehme ich nur noch Briefe entgegen! Aber die Sache ist eben die… du ahnst, daß Gott sehr mutig werden mußte, um noch einmal die Hand auszustrecken durch den Misthaufen der Zeit.“
    „Was für ein Misthaufen? Außerdem glaubst du gar nicht an Gott!“
    „Aber an das Heilige. Du weißt schon, was ich meine.“
    „Hm. Ja und nein.“
    „Eine geheime Liaison, weißt du, man kann sie nur wahrnehmen, wenn jemand oder etwas dir die Augen poliert. Aber wir lassen uns nicht gern die Augen polieren.“
    „Mich erstaunt, was du da sagst.“
    Auch Aljoscha nahm es wunder. Man hätte besser geschwiegen über diese Dinge. Es wäre noch möglich gewesen, Vergessen zu breiten über das, was nun beschworen war. Jetzt hatte er es mit Worten an seinem Dasein festgenagelt. Nur für sich selbst, gewiß. Aber vielleicht hat Luther seine Thesen auch zuerst nur an die Holztür seiner Klause geschlagen. Um den Hammer zu probieren.
    Am Tag darauf berichtete Pjotr, daß in seiner Wohnung beträchtliche Verwüstungen angerichtet worden waren, während er die Nachtschicht in der Klinik abgesessen hatte.
    „Ich weiß nicht, wer hier eingedrungen ist, aber ich habe das Gefühl, daß jemand mich beschattet. Dieser X kennt meinen Rhythmus. Was blüht mir noch? Durchschnittene Kehle? Erst der Drohbrief und jetzt dies… wenn das so weitergeht, sind meine sieben Köpfe vielleicht auch bald zertrümmert…“
    Pjotr, der sonst zur Not mit dem Teufel nach Rom gefahren wäre, war wirklich mit den Nerven zu Fuß und beschloß, in der Spelunke gegenüber den Schrecken mit ein paar Gläschen einzulullen; später am Abend rief er nochmals an, ein paar Wattebäuschchen im Mund, aber wieder halbwegs versammelt, und als er Aljoscha den Fortgang seiner Arbeit schilderte, sah er wieder klar:
    „Ich werde in den Kopf der Sphinx ein blaues und ein rotes Auge setzen! Blau für die Unendlichkeit… die Ewigkeit… das Absolute. Rot, die Liebe. Aber in dem Dings, in der Zone, in dem Spannungsfeld der Projektionen können sich Blau und Rot für den Betrachter zu Violett vermischen, der Farbe des Todes…“
    „Je nachdem, wie man sie ansieht“, meinte Aljoscha, „führt die Sphinx also in Verzückung oder ins Verderben.“
    „Genau!“ schrie Pjotr. „Es kommt darauf an, wie man vor sie tritt! Der Blick ist es, dein eigener!“
    Der Blick ist es, dein eigener.
    Was ganz nah vor Augen ist, verschwimmt – man kann es nicht mehr deutlich sehen. Der Blick, der die Welt erfaßt, trennt den Sehendenvon ihr: Sehen heißt, Distanz zu schaffen und Entfernung. Der Blick bringt zur Strecke. Er gleitet über Außenseiten. Er weiß nichts von der alten Rastafari-Parole Distanziere kein Objekt. Er sieht eine spanische Wand neben der anderen. Jedes Ding hat mehr als eine Seite, mehr als zwei, mehr als die Seiten, die es Phänomen sein lassen, und selbst wenn man unentwegt die Stellung ändert, kann man nicht das ganze Ding, das Ding an sich sehen. Könnte man es, wäre das Ding nicht mehr das Ding, und man selbst wäre nicht mehr man selbst. Man kann es aber nicht, und darum ist Sehen ständiges Nachsehen. Nichts paßt in einen Augenblick, nur eins: ein anderer Augenblick.
    Denn Blicke, die sich treffen, setzen Zeit und Dauer und Entfernung außer Kraft: ein exklusiver Stromkreis wird geschlossen, der in der Realität einen Kurzschluß auslöst. Während das Auge die Welt vergeblich zu penetrieren versucht, dringt durch das Ohr die Außenwelt ins Innere, behauptet man; darum sei Hören ein

Weitere Kostenlose Bücher