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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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sehen? Noch. Da liegt der Hase ja im Pfeffer. Aber wenn kein Hase und kein Pfeffer mehr zu sehen ist, kein neuer Morgenhimmel mehr, der sich rötet wie die Wangen einer Braut? Wenn man nicht mal mehr die Hand vor Augen sieht, kann man sich das vor Augen halten? Eben nicht. In dieses Nichts zu müssen, das ist arg; und darum, mächt’ge Richter, verschlimmert nicht den Abschied tausendfach – laßt ab vom Wack’ren, der seine Seele schon verröchelt; laßt nicht sein letztes Bild, bevor der Große Wandler kommt, das Wandeln eines Weibes sein.
    Nur die Frau hat einen Gang. Der Mann geht, weil er gehen muß, er ist immer unterwegs von A nach B, sein Gehen ist rein funktional und ohne Lust, es hat nichts Metaphysisches und gleichsam Schwebendes, und es hat schon gar nichts, was das Erfinden solcher Worte wie Grazie oder Anmut zwingend nötig gemacht hätte. Aber gerade der Mann, der zu schlendern versucht, der also seinen Funktionalgang vorsätzlich zum Herumlatschen abbremst, produziert Fortbewegungsarten, die seit dem täppischen Abgang des Australopithecus von diesem Planeten als eliminiert galten. Wenn er beschwingt eine Treppe abwärts schlingert, wenn seine Füße dabei in alle Richtungen schnellen, als würden aufgescheuchte Frösche in den Socken sitzen; wenn frenetisches Flattern der Hose den debilen Step begleitet und das ganze unkoordinierte Chaos deutlich macht, warum der Physik gar nichts anderes übrig bleibt als die Auflösung des klassischen Materiebegriffes, dann wird evident, daß Treppen dazu da sind, die Frau herabsteigen zu lassen aus den objektiven Himmeln ihrer Weiblichkeit. Keine Treppe bringt die Frau aus ihrem Ur-Rhythmus, dem welttragenden, der aus dem Becken kommt, dem Klangkörper des All-Tons. Wenn die Frau einen Zank damit beendet, daß sie auf dem Absatz kehrt macht, ist ihr Gang Bestimmtheit selbst, autonom und zwingend, einen Stolz diktierend, der aus Königen Kretins, aus Prälaten Pöbel und aus Städten Sandgekrümel macht. Dem Mannfehlt diese Fähigkeit: sich mit jedem Schritt zu buchstabieren. Man weiß nicht, ob er gerade zum Martyrium unterwegs ist oder zur Bushaltestelle. Geht er die Welt retten oder ins Büro? Kein Unterschied.
    Der Gang der Frau ist das ewige Weitertanzen Salomes, die niemals zu versklavende Geschmeidigkeit der Artemis, der kreisende Schoß der Astarte, der Trotz der Jeanne d’Arc vor ihren Richtern, der unbeirrbare Gang durch die Geschichte mit jenem Hauch von Überlegenheit, an den zehntausend Jahre Unterdrückung nicht reichen – das für immer Unberührbare. Die Frau geht voller Eleganz durch einen Hurrikan und mit Würde aufs Schafott, ihr Gehen ist die ewige Bewegung um einen Schöpfungspunkt herum, der Schreitzyklus ihrer Schenkel ist wie der elektromagnetische Atem des Universums, und wenn ihr Gang von jener Art ist, daß es einem Mann die Augäpfel zu sprengen droht, dann handelt es sich nicht um etwas Künstliches, sondern um Natürliches als Kunst. Alles andere bildet ihr Spalier: der Gang der Frau ist jederzeit ein Kommen, auch wenn es nur ein Gehen ist.
    Es war der 24. November. Aljoscha überquerte die Kreuzung am Damtorsk-Bahnhof und bog in die Allee ein, die zum Universitäts-Hauptgebäude führte. Ein Schwarm nachdenklicher Vögel zog über ihn hinweg. Er näherte sich den Mysterienkulten, und das Mysterium näherte sich ihm.
    SHE’S WALKING DOWN THE STREETS
    SIE kam ihm entgegen unter den schwarzen Gerippen der Bäume. Er war wie vom Wetter gerührt. Es war doch erst Montag! Es war erst gottverdammter Montag! SIE,
    BLIND TO EVERY EYE SHE MEETS
    zunächst nur ein Schemen in der Ferne, eine Luftspiegelung in der Wüste, dann jedoch eindeutig offenbart durch IHREN Gang, SIE kam auf ihn zu wie des Henkers schöne Tochter, unbeirrbar, ohne Hast,
    SHE HOLDS HER HEAD SO HIGH
    IHRE Ledertasche mit beiden Armen an sich drückend wie eine Magd den Apfelkorb oder eine Hexenkönigin den Kater, die fünf Töchter der Gnade im schwarzen Handschuh. Weil der Schwung der Arme entfiel, wirkte SIE
    LIKE A STATUE IN THE SKY
    noch zurückhaltender, noch unerschütterlicher, noch mehr in sich gekehrt als sonst; IHR Gang wurde dadurch nur noch aufsehenerregender. SIE vollzog eine gelassene Tortur an jedem, der SIE beobachtete, und allein die Art, wie SIE sich bewegte, brachte klar zum Ausdruck, wie dasGetriebe der Welt für SIE keinerlei Konkretheit annehmen konnte, wie extravagant die Vorstellungen sein mußten, die für diese Frau Bedeutung hatten. Oder war

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