Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
Vom Netzwerk:
Wirklichkeit war er nur ein Symbol für einen, der zwei Stunden gewonnen hatte, fern von seinen eigenen Dampfhämmern und Schornsteinen, zwei Stunden, die trotz allem nur IHR geweiht waren, IHR und dem Blau der Gegenwelten in den Augen der weiblichen Geschöpfe auf der Leinwand dieser Totemsymbolisten.
    Aljoschas Leben, es war ein Diptychon geworden.
    Am Freitag hätte ein Beobachter beobachten können, wie Aljoscha mit seinem Fahrrad höchst verdächtige Umwege fuhr, um ein Buch in die Bibliothek zurückzubringen. Er kreuzte scheinbar ziellos durch den Minski-Bezirk, dessen Straßen großenteils von ehrwürdigen Altbauten gesäumt wurden, und er kam zu dem Schluß, daß die Strecke von der Metrostation Dobropol bis hierher nicht zu weit war, um von einer Frau, die auf hohen Absätzen zu gehen pflegte, zurückgelegt zu werden. Nichtzu weit, um täglicher Weg zu sein. Es war denkbar – sogar äußerst glaubwürdig –, daß hinter einer dieser Fassaden mit altem Stuckwerk und gußeisernen Balkongittern IHRE Wohnung lag.
    IHR täglicher Weg zu sein – welch ein Weg, zu sein.
    Vielleicht wohnte SIE doch allein?
    Und wenn SIE ausging? Ging SIE in den Zoo, um vor dem Käfig der schwarzen Leoparden eine Zeichnung anzufertigen, mit der SIE dann nicht zufrieden war? Zerknüllte SIE das Blatt dann, warf SIE es in den Papierkorb, so wie Irena Dubrovna?
    Hätte die Schlacht bei Hastings nicht bei Hastings stattgefunden, dann wahrscheinlich auf Aljoschas Schreibtisch. Beim Aufräumen desselben fand er einen Zettel, auf dem er eines Morgens einen Traum notiert hatte. Es war ein elendes, schlaftrunkenes Gekritzel, das er nur mühsam entzifferte:
    Ein glänzendes Fest – amüsierter Trubel – ich wandere durch die Räume – habe meinen Dienst quittiert, trage aber noch die Uniform – Gesichter, die sich abwenden – pikiert wegen meines Vergehens – was hier (unleserlich) ist nicht für mich – dann (unleserlich), die ich nicht erwartet habe hier – hält sich im Hintergrund – aber scheint auf mich zu warten – zerbrechlich, unnahbar – aber je länger ich sie ansehe, um so mehr liebe ich sie – (unleserlich), ruhig und wissend – endlich spricht sie, zu mir – offenbart, daß wir uns vor langer Zeit schon einmal liebten – daß wir uns wiederfinden müssen – unser beider Untergang, wenn nicht… 22. Juli.
    Aljoscha legte das Papier aus der Hand. Aus untersten Regionen exhumierte er einen Kalender und ermittelte, daß der 22. Juli, unbeeindruckt von der Wahrscheinlichkeit 1:7, auf einen Dienstag gefallen war. Daß er der Katzenmenschenfrau ebenfalls an Dienstagen begegnete… Zufall, der pompös daherwalkürte, sich aber mit souveränem Gestus beiseite schieben ließ. Als Aljoscha auf dem Kalender das Kleingedruckte las, schlug es jedoch 13. Denn der 22. Juli war auch der Feiertag der Maria Magdalena.
    Aljoscha betrachtete sein Ölgemälde, seine Maria Magdalena, und konnte nicht mehr glauben, daß er sie auch Lilith oder Leila hätte nennen können.
    Man kann Zettel zerknüllen, aber Tatsachen? Er hatte jetzt das vierte Viertel. Ein Bild im Vierfarbdruck. Vier Träume. Da war erstens der Traum, in dem er mit dem Plündertruppen-Hauptmann um die Frau gekämpft hatte, die keine Mätresse war, auf dem Fels, von dem es hieß, erwürde niemals bröckeln. Am nächsten Tag war er der Katzenmenschenfrau begegnet, und er hatte sich ein Bild von IHR gemacht, und er nannte es Maria Magdalena.
    Da war zweitens der Traum von jener Frau auf dem Fest – geträumt am Tag Maria Magdalenas –, in dem er erfuhr, daß sie einander gehörten seit irgendwelchen Urgründen der Zeit. Da war drittens der Traum von dem Ballspiel in der Arena, in dem eine Frau, deren Augen blau geworden waren, als seine Mitspielerin auftrat in einem unentdeckten Ritual. Und da war viertens SIE, durch das Wasser eines Traum-Schwimmbeckens gleitend, aller Symbole entkleidet. Eine Serie von Träumen, durch Aljoschas Schlaf geprescht wie die vier apokalyptischen Reiter, seinen Wachzustand an ihren Schweif gebunden. Wie sollte man noch glauben, Zukunft wäre rein zukünftig? Der Traum, die andere Vernunft.
    Die Kerzen flackerten wie die Gedanken eines Psychopathen. Bei offenem Fenster hörte Aljoscha in der Nacht manchmal von fern ein langgezogenes Heulen. Es war das Heulen des Triebwagens einer anfahrenden Metro, durchzogen vom metallischen Kreischen der Räder auf den Schienen. Es klang so, wie Aljoscha sich den Ruf der Todesfeen dachte, die man weiter

Weitere Kostenlose Bücher