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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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der andere Aljoscha nicht existenter als ein Vampir bei Tageslicht, solange Ledas Gegenwart Aljoscha 1 fixierte, den ihr vertrauten, gewohnten Aljoscha. Sobald aber nicht mehr Ledas Bewegungen die Bilder auf der Netzhaut seiner Augen erzeugten, gewann der Doppelgänger Intervalldasein, seine andere Existenz, ein zweites Ich, das nicht weniger Ich war – eine Daseinsform, die er umgehend wieder verlor, sobald Leda bei ihm war. Ledas Präsenz war wie ein Exorzismus, ihre Abwesenheit beschwor Beschwörungen.
    An diesem Sonntag war Aljoscha bereits zweimal durch den Metrobahnhof Dobropol gekommen: auf dem Weg zu Leda und auf dem Weg zurück. Positivistischer Beobachtung bot dieser Bahnhof nur Tristesse; vor Aljoschas geistigem Auge aber wiederholten sich die Schritte der Katzenmenschenfrau auf den Steinplatten wie ein optisches Echo. Am Abend fuhr er dann ein drittes Mal durch Dobropol, unterwegs zu einem Auftritt des Musikers und Sängers Peter Hammill.
    Hammill war ein Künstler, der auch seine Zuhörer zu Künstlern machte: zu Virtuosen in der Kunst des Zuhörens. Seine Texte setzten wundersame Wandlungen in Gang: der Einzelgänger war willkommen wie ein charmanter Plauderer beim Nachmittagstee, äußerste Individualität war äußerste Vertrautheit, der Tiefschürfende war Busenfreund, das Spinnerte war sonnenklar, alle Menschen konnten alles verstehen, Spinoza war gar keine Nudelspeise. Aber in der andächtigen, fast sakralen Stimmung, in die ein Auftritt Hammills getaucht war – als ob Merkur seinen Stab hebt, um ein Loch in die Wolken zu stochern –, detoniertendie Worte eines derart Wortgewandten zugleich auf paradoxe Weise die Macht der Worte. Während Aljoscha Hammill zusah, wurde ihm klar, wie die Worte als Söldner der positivistischen Ordnung völlig nutzlose Schlachten schlagen – während sich unterhalb gewisser Schichten das Wesentliche vorbereitet. Hammills Stimme kannte eine Pein, deren Gefahr darin liegt, zur melancholischen Konstante zu werden – die Pein der Erfahrung, daß Worte Versager sind. Nicht nur, daß sie sich an alles, was sie beschreiben wollen, nur annähern; oft sind sie nur Handlanger der Irrtümer und der Illusionen, die wir so gut über andere hegen wie andere über uns, die kleinen und gemeinen Krieger der falschen Vorstellungen, gegen die man bis zur Besinnungslosigkeit kämpfen muß. Man wird errichtet aus Worten, man wird ein Angeblicher, und diesen Angeblichen treffen Affekte und Aufgeregtheiten und mehr Worte, die sich jetzt nicht einmal mehr annähern, oder nur noch an eine Fiktion, bis man dem Schöpfer dieser Fiktion zurufen möchte: du redest und kämpfst die ganze Zeit mit dir selbst. Das Große an Hammills Kunst war, daß er all das wußte und zum Ausdruck brachte und trotzdem ein Loch in die Wolken stocherte; daß er den Existenzkampf der Worte vorführte, oder besser: den Kampf der Worte um etwas Existentes. Seine Texte waren Begleittexte: der Versuch, nicht zu verstummen, während sich unterhalb gewisser Schichten das Wesentliche vorbereitet.
    Nach dem Konzert spähte Aljoscha noch ein viertes Mal durch alle Scheiben, während die Metro in Dobropol hielt; wieder sah er nicht, die er zu sehen begehrte, wieder flirrte seine Iris fieberhaft, wieder aussichtslos auf eine andere Iris hoffend. Ihm blieb nur übrig, süchtige Augen zu senken. Aljoscha stieg nicht aus, obwohl er einen schwarzen Stift in seiner Jackentasche hatte, einen Stift, der tauglich war zum Hinterlassen von Botschaften an den Wänden positivistischer Metrostationen.
    Aus der Metro steigen – aus dem Strom steigen, wie ein altes japanisches Zen-Wort sagt.

16
    Verhindert ewig, o ihr Weltenlenker, daß dem Auge eines Todgeweihten, dessen Blick schon bricht, als letzter Anblick eine Frau erscheint, die einfach nur vorbeigeht. Verhindert, wenn der Arme nicht verdammt seinsoll, daß sein letzter Blick den Schritten einer Dame folgt, die zufällig des Weges kommt. Man sagt, des Todes Schrecken ist einzig und allein das Nichts, aber hol’s der Teufel, wenn dieses Nichts nicht fein gestaffelt ist! Wenn endgültig genug geschrammelt ist nach schönen Augenblicken und die Stunde dräut, da wir der Dinge kommen, die da harren; wenn man nicht mehr sieht, wie hoch man schon gestiegen war, sondern nur, wie tief der Fall sein wird; fängt dann nicht sogar der Hartgesottene an, die Nichtse zu sortieren? Und ist’s nicht eins der schlimmsten Nichtse, wenn nichts mehr auf die Netzhaut geht? Das kann man so und so

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