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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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es ein Schmerz, zu tief, um Außenwelt zu dulden? SIE ging wie eine Frau, die abzuwarten wußte, den Blick gesenkt, vornehm wie eine Pfingstrose am Mittag, schlank wie eine der Lamien. SIE trug eine schwarze Jacke, die Aljoscha fast zu dünn erschien für diese Jahreszeit, fast schon Wintersonne, matt und fahl, fast waren SIE und er auf gleicher Höhe, fast schon zu zart IHRE Strümpfe für den drohenden Biß von Väterchen Frost, fast war SIE an ihm vorüber, und Aljoscha brachte im Geiste eine Horde Wildpferde zum Stehen, kurz davor, vor IHR auf die Knie zu fallen.
    DO YOU HOPE TO MAKE HER SEE, YOU FOOL?
    In allerletzter Sekunde hob SIE den Blick zu ihm auf, SIE hob diese Sekunde für ihn auf, und es hieb die Zeit in 1000 Stücke.
    Nicht die Andeutung eines Lächelns. „Lord have mercy“, dachte Aljoscha, in der Aufregung die Sprache verwechselnd; instinktiv drehte er sich noch einmal um die eigene Achse, doch alles, was seine konfuse Pirouette ihm enthüllte, war, daß SIE unangefochten IHREN Weg fortsetzte.
    Wer kennt es denn, das Hoffen der noch nicht erblühten Rose?
    Wie unbelehrbar er war. Hatte er wirklich gehofft, daß SIE ihm ein Lächeln gewährte, ihm, der sich doch seinerseits bedeckt hielt wie ein Häretiker im Franziskanerkloster? Völliger geistiger Stromausfall. SIE hatte ihn angesehen – welche Forderungen hatte er denn noch? Und wenn er… – aber nein, nur nicht Kompagnon solcher Dummheiten werden. Das Ritual verbot’s. Sie gaben sich kein Lächeln. Sie gaben sich zu denken. Diese Augen – wenn es einen Anblick gab, der nur Göttern zuteil wurde, dann mußte er ein Gott sein. Er hatte etwas Frierendes in diesem Blick gesehen, ein Mädchen mit den Zündhölzern, um das er seinen Mantel legen wollte.
    WHO’LL LOVE ALADDIN SANE?
    Ein Piano-Solo – rätselhaft und dissonant, vor Erregung außer sich – kam langsam zur Ruhe. Aljoscha stellte seinen Walkman aus. Er wünschte nur, verstehen zu können, was Die Mächte Die Da Sind vorhatten mit ihm – oder was Die Mächte Die Da Zu Sein Scheinen von ihm erwarteten.
    Ein jeder hütet seine Seele gut – zu gut. Aljoscha saß verloren in der Vorlesung über die Mysterienkulte und ließ die Katzenmenschenfrau wieder und wieder auf der Allee erscheinen; er verbarg sich im Schattender Bäume, um IHR zuzusehen wie ein Faun, er verschwand im Schatten großer Gewalten, um aus jeder geschmeidigen Bewegung süßen Sinn zu trinken. Stell dir Wind vor, der dein Kleid bauscht – das bin ich. Fühl mich, wie ich an deinen Beinen hinauf wehe. Er verpaßte noch zehnmal den einen Moment, in dem das Tor zu anderen Welten offen stand… nur einmal blieb SIE stehen und öffnete wortlos die Tasche, die SIE im Arm getragen hatte, und er sah hinein wie in einen Zauberspiegel, der alles zeigt und nichts. Denn so verhielt es sich. Er wußte alles von dieser Frau und nichts.
    Sie waren ein eigentümliches Gespann. IHR Eigentum war spannend, und er war eigentlich überspannt.

17
    Weckerklingeln bedeutete noch lange nicht, daß Aljoscha sofort wußte, wer er war und warum, auch nach dem ersten Kaffee hatte er meistens erst 75% seiner Kapazität. Aber wenn er die Augen aufschlug und sich praktisch zugleich in der Senkrechten befand, war klar, daß Dienstag war. Mit prompt paukendem Pulsschlag stürzte er sich in den eisigen Morgen des 25. November und suchte um Punkt 9Uhr in Madame Woronskas Seminar über Sterben und Tod seinen Platz neben Oleg. Oleg war ein freundlicher Skeptiker, der sich für gewöhnlich wohlwollende Zurückhaltung im Urteil auferlegte und ganz aus Besonnenheit bestand, manchen Phänomenen aber völlig rückhaltlos den Status „Wunder“ zusprach, etwa der LP Low von David Bowie, der Oleg mit numinoser Scheu begegnete. Er zählte zu den Menschen, deren Gegenwart eine ausgesprochene Wohltat ist, was an ihrer Ausgeglichenheit liegt, aber auch an ihrer Fähigkeit, Antworten zu geben, an die man sich lehnen kann wie an eine Schulter. Verwunderlich gleichwohl, daß ausgerechnet Oleg jenen Satz vernehmen sollte, der für ihn so undurchsichtig war wie für Aljoscha die dazugehörige Geschichte. Aber Aljoscha konnte nicht anders; er mußte erproben, welche Wirkung es hatte, die magische Formel auszusprechen, und sollte ihm darüber die Zunge steif werden. „Ich glaube“, hatte er begonnen, und die Fortsetzung des Satzes hing noch mit einem Bein in Teufels Küche, und er sah versonnen auf den Kugelschreiber in Olegs Hand – und Oleg, der Aljoschas Blick

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