Alkor - Tagebuch 1989
aufgefallen, das rettete mich.
Post.«In der Hoffnung, bald von Ihnen zu hören, verbleibe ich …»
Dorfroman: Die Kühe wurden gestern auf die Weide getrieben. Sie sind neugierig: Ach ja, das ist ja das Haus des Schriftstellers, sie gucken, ob sie mich entdecken können. Von links die Hühner, von rechts die Kühe. - Lupinen, Knöterich.
Heute strichen die schwarzen Vögel wieder ums Haus. Hildegard zeigte mir die in der Sonne aufglühenden roten und blauen Aschenbecher auf dem Fensterbrett. Sie meint, daß die Vögel davon angelockt werden. Sie will sich einen Stuhl an den Querweg stellen und mal aufpassen, ob man von dort aus das bunte Glas aufglühen sieht. Sie hat Verständnis für die Tiere. Damit beschwichtigt sie ihre Angst.
Nartum
Di 13. Juni 1989
Bild: Gorbatschow/Ein Kuß für Annette/Ein Kuß für Deutschland /Glanzvoller Empfang/Danke, sagte er auf deutsch zu Weizsäcker /Die 90 Minuten mit Kanzler Kohl/II neue Abkommen/ Russen geben 1500 Soldatengräber frei
ND: Erich Honecker zeichnete verdiente Pädagogen aus
T: Von Günter Grass geträumt. Er ging in unserem Haus von einem Bild zum andern und hat mir gesagt, was ich hängen lassen soll und was abnehmen.
Ich trug gestern in Oldenburg den schweren Bücherkarton in die dritte Etage, an all meinen Studenten vorbei. Niemand half mir, nicht einmal die Tür öffneten sie mir. Zurück dann dasselbe. Ich sagte zu einer Studentin:«Ob Sie mir mal bitte helfen? »- Und was antwortete sie mir?«Soweit kommt das noch.»
Es handelte sich um eine Pädagogik-Studentin. - Ob das was mit Norddeutschland zu tun hat? Das Tafelwischen ist auch so eine Sache. Seit 1981 wische ich jedes Mal vor Beginn der Vorlesung die Tafel. Irgendwann müßten sie es doch einmal tun. Vielleicht ist es ihnen peinlich voreinander? Von Hentig sagte irgendwo, er glaube nicht so recht an das Phänomen des«Vorbildes». Seit Jahren klaube er Tag für Tag Papier auf, das in den Klassen auf dem Fußboden liegt. Niemand folgt seinem Beispiel. Gorbatschow-Besuch. Ein Kind wird ihm auf den Balkon gereicht. Der Kanzler hatte sich diesmal - anders als beim Honeckerbesuch - die Haare schneiden lassen.
Dorfroman: Sanfter Wind, die Glasglöckchen klingeln, das Gurren der sandbadenden Hühner, grasrupfende Schafe, Geknatter der Fahne. - Schön warm, ein Buchfink, Sandtorte, Kaffee, Sonnenbrille und zu all den Annehmlichkeiten lese ich einen Aufsatz von Grass über Indien. Ein Gefühl der Lähmung.«Wie man’s macht, ist es verkehrt», in dem Sinne. Wer sich umsieht, muß zugeben, daß alle die apokalyptischen Probleme nicht gelöst werden, nicht ein einziges. Die Gorbatschow-Versuche werden im Chaos enden. Wahrscheinlich schießt ihn einer um.
Gestern in Oldenburg Renate getroffen, die ihre Arbeit fertig hat.«Sie kommt nie wieder», um mit Schnitzler zu rufen. Der Seufzer eines 60jährigen. Wenn ich doch noch mal von vorn anfangen könnte … Nein. Dieser Wunsch bezieht sich nur auf Teilbereiche. Bloß nicht noch einmal: all den Dußligkeiten weitere Idiotien hinzufügen?
Die Schafe haben ein paar Minuten auf der Wiese gefressen, jetzt galoppieren sie wieder in den Schatten.
Vormittags am«Echolot»- wie in einem Verschiebebahnhof.
Nachmittags für«Sirius»den Juli’ 83 aus den Tagebüchern übertragen, mit allen Korrekturen. Es war die große Zeit der Mädchen-Hereinschneiungen. Sonderbar und erfrischend. Anders, als man sich das vorstellt.
Ich lese im Augenblick ein WK-I-Lexikon, der Vergleiche wegen, parallel zum«Echolot». Merkwürdig, wieviele Kriegsschiffe untergingen, und immer heißt es:«956 Mann Besatzung, einige
gerettet.»Ich meine, man sollte die Namen dieser Toten immer und immer wieder vorlesen. Wie die Japaner das machen: Ein tempelartiges Gebäude, in dem ein Offizier jeweils, rund um die Uhr, Namen von Gefallenen vorliest, auch wenn sich das niemand anhört. Natürlich fallen einem bei solchen Vorstellungen sofort Feuerschalen ein: so was natürlich nicht. Schon wegen des Sauerstoffverbrauchs nicht. - Daß sie die Riesenexplosionen in Action-Filmen noch nicht verboten haben? Da wird doch auch Sauerstoff verbraucht, die schwere Menge. Aber wer hier auf dem Land mal ein bißchen Reisig verbrennt, muß sofort Strafe zahlen.
In meinen alten Tagebüchern gelesen, 1960 -1967, sonderbar, wie kitschig, wie unsicher ich damals war und mich fühlte, z. T. unerträglich. Wenn man das einmal veröffentlichen will, wird man enorm ausholzen müssen. Nichts hinzufügen,
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