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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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einschreiten?
    «Gorbi»war zu sehen, der triumphal beklatscht wurde, was mich freute. Seine Frau bei einer deutschen Arbeiterfamilie in der Wohnung. Was diesen Besuch angeht, da möchte er nicht jeden Tag so einen Streß erleben, hat der Arbeiter hinterher gesagt. - In Peking werden inzwischen immer noch Männer an den Haaren zum Verhör gezogen und eingekerkert, ein widerliches Bild.
    Auf 3 sat zog Stefan Heym, der Alibist, anderthalb Stunden seine Augenbrauen hoch. Wird Zeit, daß sie dem mal Bescheid sagen, er blickt offenbar nicht mehr richtig durch.
    In einer Talkshow (RTL) war Gisela Elsner zu sehen. Wie ein
Zombie wirkte sie, voll mit Tabletten, bis oben hin. Langsame Bewegungen, schweres Sprechen. Aber im Kopf schien sie noch einigermaßen klar, obwohl das, was sie sagte, dann auch irgendwie Nonsens war. Der Talkshow-Onkel lümmelte sie aus, der hätte das doch vorher wissen müssen, daß sie Tabletten nimmt. - Als wir sie in Hamburg besuchten, das muß etwa 1974 gewesen sein, spielte sie uns Ernst-Busch-Platten vor. Es dauerte ziemlich lange, bis sie begriff, daß ich das für eine Provokation halten mußte und das abstellte.
    Heute früh gegen 5 Uhr schrie der Kater vor meinem Fenster, hörte gar nicht wieder auf (ich hatte ihm das längst abgewöhnt). Wir fanden dann Spuren, daß ihm der fremde Kater anscheinend zugesetzt hat, er humpelte auch. Das arme Tier hat bei mir offensichtlich Hilfe gesucht. - Wer hilft mir, wenn ich schreie? - Aber du humpelst ja nicht.
    22 Uhr. - Die«Metamorphosen»von Richard Strauss. Glenn Gould hat das Stück geliebt und immer wieder gespielt. Auch an einer Transkription hat er sich versucht. - Ich schrieb am«Sirius», den ganzen Tag. -«Sirius»und«Echolot». Vielleicht wird mein«Sirius»in 100 Jahren auch Teil eines«Echolots». Lustige Person vor Hintergrund.
    Dorfroman: Hildegard hat dem bösen Huckebein-Vogel Silberpapier und rot-goldene Chips-Tüten hingelegt, als Augenfraß sozusagen. Nun stehen wir sinnend am Fenster, aber das Vieh läßt sich nicht blicken. Vielleicht sitzt er irgendwo sinnend und sieht uns zu?
    Blumenstrauß: 63,20 DM!
    Holunder fängt an zu blühen, Erdbeeren.

Nartum
Do 15. Juni 1989
    Bild: Raissa: Gugelhupf bei Frau Götz auf dem Sofa/Wassertest/ Hinein! Berlins Seen sind prima
    ND: Zweiter Beratungstag des IX. Pädagogischen Kongresses/
Die große Aussprache der Lehrer mit Blick auf künftige Aufgaben
     
    Lesung in Winsen an der Luhe, in einer Gründerzeitschule. Ich machte leider in meinen einleitenden Worten den Fehler, die Winsener als schlechte Autofahrer zu bezeichnen. Das«WL»-Kennzeichen wäre gefürchtet in ganz Norddeutschland, wie«PI»- Pinneberg. Trotz WL-Autos wäre ich heil angekommen, sagte ich. Sie verstanden nicht, was ich damit meinte. - Als ich aus dem Auto stieg, trat ich voll in Hundescheiße, hatte Mühe, das Zeug loszuwerden. Immer, wenn ich jetzt an Winsen denke, wird mir Hundescheiße einfallen. - Andere Eintretereien sind mir auch noch in Erinnerung: In Rotenburg, vorm Juwelierladen. Was mir heute, wo ich darüber nachdenke, symbolisch vorkommt.
     
    2000: Robert Altman hat dieses Phänomen sogar in einem Film verwendet, als Leitmotiv: Prêt à porter (1995).
     
    Eine Dame meint, ihr Leben sei«beschreibenswert und sogar verfilmenswert». Wenn ich Interesse hätte, es zu einem Buch zu verarbeiten, soll ich Kontakt mit ihr aufnehmen, auch ein persönliches Treffen ließe sich arrangieren. - Eine andere Frau beanstandete nach der Lesung, ich hätte mich so selten verlesen, das hätte sie gestört.
    Neulich in Hamburg zu einem Buchhändler:«Soll ich Ihnen diese Erstausgabe signieren?»
    «Ich weiß nicht …»
    «Ich bin der Autor!!»
    «Naja … vielleicht mit Bleistift …»
    (Hildegard:«Das will der wieder rausradieren.»)
    Offenbar kriege ich jetzt eine Erdbeernase. Wird Zeit, daß ich abkratze.

Nartum
Fr 16. Juni 1989
    Bild: Wahnsinniger legte Bombe an der Bahn / Sollte Gorbatschow ermordet werden?
    ND: Erziehung der Jugend im Geiste des Sozialismus, des Friedens, des Fortschritts, des proletarischen Internationalismus, der Liebe und Treue zu unserem sozialistischen Vaterland
     
    T: Im Zuchthaus, ein ungeheures Gewühle. Neue sind gekommen, einer mit Geige. Ein junger Mensch wundert sich, daß ich schon so lange sitze.
     
    Immer noch heiß.
    Gegen Mittag kam ein Professor aus den USA mit seiner Frau. Ein Emigrant. Ich hatte zu einem kleinen Imbiß geladen. Hauten ganz schön rein. Ich verstehe nicht, wie

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