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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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hinweggezerrt.
    Harry Graf Kessler über Liebknecht:
    Vom Balkon redete Liebknecht. Ich hörte ihn zum ersten Male; er redet wie ein Pastor, mit salbungsvollem Pathos, langsam und gefühlvoll die Worte singend. Man sah ihn nicht, weil er aus einem verdunkelten Zimmer sprach, man verstand nur einzelne von seinen Worten, aber der Singsang seiner Stimme tönte über die lautlos lauschende Menge bis weit hinten in den Platz. Am Schluß brüllte alles im Chore«Hoch», rote Fahnen bewegten sich, Tausende von Händen und Hüten flogen auf. Er war wie ein unsichtbarer Priester der Revolution, ein geheimnisvolles, tönendes Symbol, zu dem diese Leute aufblickten. Halb schien das Ganze eine Messe, halb ein riesiges Konventikel. Die Welle des Bolschewismus, die von Osten kommt, hat etwas von der Überflutung durch Mohammed im siebenten Jahrhundert. Fanatismus und Waffen im Dienste einer unklaren neuen Hoffnung, der weithin nur Trümmer alter Weltanschauungen entgegenstehen. Die Fahne des Propheten weht auch vor Lenins Heeren.
    Die Briefe der Luxemburg sind zum Teil anrührend zu lesen. Wie sie sich im Gefängnis ein Herbarium angelegt hat. Einen Korbsessel hat man ihr in den Hof gestellt. Das war doch sehr freundlich? Uns hat man mit dergleichen nicht versehen. Man liest wenig Kritisches über die beiden, es waren doch auch Menschen?

    Zweierlei Arten von Demonstration. Hier die brav-säuerliche, von der Obrigkeit verordnete, dort die Brandung, die gegen die Oktaeder schlägt.
     
    2000: Sie demonstrieren immer noch für Rosa und Karl. Dieses stupide Dahintrotten. Man müßte sich an den Straßenrand stellen und über die Demonstrationsbeamten lachen. - Eine besonders kitschige Art der Demonstration, die neuerdings zu beobachten ist: dies Blumenablegen vor gebrandstifteten Häusern - sie nehmen nicht einmal das Cellophan ab! Kerzen gehören auch immer dazu. Das Wegräumen der Sträuße vor Lady Di’s Türe hat große Probleme gemacht. Man engagierte Pfadfinder dafür, die es schonend vollbrachten. Müllabfuhr wäre nicht gegangen.
     
    Kurz vor Mitternacht hörte ich ein Streichquartett von Mozart. Bei sowas wird man ein besserer Mensch. Aber am nächsten Tag ist man wieder verkrustet.
    Es ist naß, kalt und windig ums Haus.

Nartum
Di 17. Januar 1989
    Bild: Doppelmord vor der Party/Gemeinsam vergewaltigt, gemeinsam erwürgt
    ND: Meinungsaustausch zwischen Erich Honecker und Horst Schmidt/Zusammenarbeit zwischen DDR und Berlin (West) wird zum gegenseitigen Nutzen ausgebaut
     
    Dorfroman: Die Tarmstedter brachten mir alte Entschuldigungszettel kuriosen Inhalts.
    Ich möchte Kirsten entschuldigen, weil sie auf ihren kleinen Bruder aufpassen mußte. Ich bin eine Frau über 30 und muß auch mal auf dem Sofa liegen.

    Hiermit entschuldige ich meine Tochter Svenja. Sie muß zum Arz. Weil Svenja zu dick werd es muß ja was geschehen.
    Vorgestern hatten wir ein großes Vollmondfest, bei dem sich viele Erwachsene und Kinder trafen. Nach einer festlichen Nacht mochten sich Kinder und Erwachsene nicht in Eile trennen, so verbrachten wir alle noch einen gemeinsamen Tag in frohem Mut, daß auch morgen die Sonne noch über unseren Köpfen aufgehen mag. Die Kinder haben sich dann auch mit Spielen und Backen beschäftigt und auch was gelernt. So hoffe ich auch auf Ihr Verständnis.
    Mein Sohn soll nicht mit auf Klassenfahrt, eine Bruse [sic] kann er auch zu Hause trinken.
    Am gestrigen Morgen haben wir, bedingt durch die Abwesenheit meines Mannes, so nachhaltig verschlafen, daß es nicht mehr lohnte, den Jungen noch zur Schule zu bringen.
    Wegen möglicher Gefährdung durch radioaktive Strahlung bei Regenschauer haben wir Helga am Mittwoch und Freitag zu Hause behalten.
    Gegen Abend kamen zwei Schülerinnen, die eine Abschlußarbeit über den«Tadellöser»schreiben wollen oder sollen.
    Ob ich das Bürgertum entlarven wollte, fragten sie, und:«Haben Ihre Eltern wirklich so geredet?»Sonst konnte von Wißbegier keine Rede sein. Man möchte ihnen den Text wie eine Tür öffnen und sie«reinlassen», aber sie wollen ja gar nicht. Immer noch Geprügel in Prag. F. M. meint: Diese Ostmenschen hauen ganz anders zu als unsere. Wahrscheinlich könnten die Demonstranten - slawischen Blutes - auch mehr ab als unsere.
    Im«Spiegel»steht, daß«noch mehr Öl in Saudi-Arabien»vorhanden sei als man gedacht hat. Zum Vorjahr seien die Vorräte um 51% gestiegen. Ich mußte an einen Vortrag des Physikers Pupke an der Rostocker Universität denken, der 1944

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